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Reporter Eutin

„Es hat mir geholfen, dass ich gebraucht und geliebt wurde“

Ostholstein (aj). Stark wie Zwei, mindestens – daran muss ich denken, wenn ich Sibylle Latza treffe. Sie weiß, was sie will und sie sagt das klar. Ihre Energie reißt mit, ihre Ideen begeistern. Sie ist eine, die sich nicht in den Vordergrund drängt, Menschen Raum gibt und die kein Problem damit hat, Regie zu führen. Kennengelernt habe ich sie, als sie und ihre Mitstreiterinnen zu einem Pressetermin in die Goldschmiede Schlüter einluden, um Schmuck zu präsentieren, der zugunsten der Selbsthilfegruppe „Hoffnungsschimmer“ verkauft wird. Sibylle Latza war eine der Initiatorinnen. Eine Macherin also. Eine Macherin, die den Krebs kennt. Zweimal hat sie die Diagnose aushalten müssen. Den Schock, die Schmerzen, die Ungewissheit, die Angst. Als sie mich im letzten Herbst fragte, ob wir eine reporter-Serie über die Institutionen erarbeiten wollen, die Menschen mit einer Krebserkrankung Rat und Unterstützung bieten, war ich natürlich sofort an Bord. Beim Nachdenken über ein Konzept entschied ich, dass es kompakte Texte sein sollten, in denen die jeweilige Anlaufstelle, der Verein vorgestellt würden. Konkrete Informationen, Ansprechpartner*innen, Adressen, Telefonnummern. Als ich die Sache schließlich angehen wollte, merkte ich: Da fehlt etwas! Es brauchte den Weg ins Thema, das Signal „Hier geht es um Euch!“ an die Betroffenen, an ihre Angehörigen und Freund*innen. Und den Appell an alle anderen, sich nicht zurückzuziehen, wenn der Mensch, den wir kennen, diese Bürde zu tragen hat. Es brauchte Emotion und ein Gesicht. Sibylle Latza war bereit, ihr Gesicht zu zeigen. Und weil Krebs immer das Leben aller im Umfeld ändert, bat ich auch ihre ältere Tochter, mir zu erzählen, wie sie als Kind die Krankheit ihrer Mutter erlebt und überstanden hat. Im Mai 2007 tastet Sibylle Latza den Knoten in der linken Brust. Zum Arzt geht sie erst später. Sie wartet ab, hofft: „Ich habe das verdrängt, weitergelebt, als ob nichts wäre“, sagt sie heute. Ihre Tochter Susann kennt das Phänomen: „Viele Frauen hoffen, das von allein weggeht, was von allein gekommen ist“, meint sie. Sie weiß, wovon sie redet. Die junge Frau arbeitet als Medizinisch-Technische-Radiologieassistentin, in den entsprechenden Untersuchungen von Patient*innen ist das Thema Krebs quasi allgegenwärtig. Man braucht wohl keinen Universitätsabschluss, um zu ahnen, dass es ihr Weg ist, der Krankheit zu begegnen, die sie ohnehin nie ganz abschütteln kann. Als Sibylle Latza schließlich doch zum Arzt geht, Mammographie und Biopsie durchläuft, als sie die Diagnose hört – „auf dem Tisch lag eine Packung Tempotaschentücher bereit“ – und sich wie in einem Film fühlt, sind ihre Töchter neun und zwölf Jahre alt. Onkologie, Brustzentrum, Chemo, Operation und Bestrahlung – auf Sibylle Latza und den Krebs wartet das volle Programm. Sie braucht all Ihre Kraft, um die Fahrten nach Lübeck ins Strahlenzentrum durchzustehen, um überhaupt alles irgendwie am Laufen zu halten. Um nicht zusammenbrechen. Als sie in der Reha auf Sylt vom Arzt erfährt, dass sie nicht mehr in ihrem Beruf als Assistentin in der Altenpflege arbeiten kann, weint sie. Es ist das erste Mal und ich höre ihr zu und denke: Endlich! Und Susann? Während ihre Mutter mit dem Krebs kämpft, verschwindet ihre Kinderwelt und mit ihr alles Vertrauen, dass das Leben stärker ist, dass immer alles gut endet: „Diese Krankheit nimmt einem Kind die Sicherheit, dass der Mensch, den man liebt, auch nach Hause kommt“, sagt sie. Als sie ihren Vater weinen sieht, weiß sie, wie schlimm es ist. Sie wählt ihre Worte bewusst, spricht ruhig und in großer Klarheit. Vielleicht ist das zum Teil auch eine Folge der psychologischen Therapie, die sie im Alter zwischen 16 und 18 Jahren mitmacht: „Ich kann das allen nur empfehlen“, rät sie. Mit zwölf aber ist sie der Situation ausgeliefert: In der Schule als „komisch“ abgestempelt, zieht sie sich mehr und mehr zurück, will gleichzeitig weiter funktionieren. Bis heute kann sie nicht verstehen, warum sie niemand auffängt: „Es hätte sein können, dass meine Mutter stirbt“, meint sie schlicht und in der Wucht dieses Satzes liegt alle berechtigte Enttäuschung. Sibylle Latza schafft es. Sie macht eine Umschulung zur Bürokauffrau, Susann verlässt die Schule mit der Mittleren Reife und beginnt die Ausbildung zur MTRA. Ihr Gefühl dabei beschreibt sie so: „Ich bin jetzt nicht mehr hilflos, ich kenne die Ärzte, ich kann etwas tun.“ Wie schnell auch dieses Gedankenkonstrukt ins Wanken gerät, erlebt die Familie Latza 2016. Wieder tastet Sibylle Latza den Knoten selbst, diesmal auf der rechten Seite. Aber diesmal schiebt sie den Arztbesuch nicht auf. Es ist ein neuer Krebs: Als sie im Brustzentrum ihre Ärztin wiedertrifft, weinen sie beide. Für Susann Latza steht die Welt still: „Ich habe mich wie zurückgeworfen gefühlt in die Zeit, als ich zwölf Jahre alt war“, erzählt die Tochter. Eine Woche lang bleibt sie hinter den Rollos ihres Schlafzimmers, will kein Licht, weil ohnehin alles in Dunkelheit versunken ist. „Für die Angehörigen ist es schlimm, wir Kranken haben ja zu tun, die Familie aber muss zusehen“, sagt die Mutter. Sie sehen sich lange an bei diesen Worten. Diese Nähe erlaubt Offenheit. Susann Latza hat ihre eigene Meinung zum Entschluss ihrer Mutter, sich nach der Brustamputation einer elfstündigen OP zu unterziehen, bei der die Brüste wieder aufgebaut werden: „Braucht man eine Brust?“ fragt sie. Sibylle Latza jedenfalls bereut diesen Schritt nicht. Aber der Krebs hat sie an ihre Grenze gebracht: „Von jetzt auf gleich ging nichts mehr“, erinnert sie sich. Sie gerät ins Trudeln, aber sie fällt nicht ins Bodenlose. Die Psychoonkologin Meike Adler fängt sie auf: „Da wurde mein Akku aufgeladen, es war ein Mensch, der von außen guckte, das tat gut.“ Das Gefühl, geliebt zu werden und gebraucht zu sein, das ihr so oft aus der Talsohle geholfen hat, bringt sie auch wieder zurück ins Leben. Nichts ist mehr wie es einmal war, aber Sibylle Latza kann Glück spüren: „Wenn es den Kindern gutgeht, wenn ich mit meinem Mann zusammen bin.“ Susann Latza liebt und lebt mit ihrem Partner auf dessen Bauernhof, sie hält Hühner, hat den Gemüseanbau für sich entdeckt. Wohin ihr Weg die beiden und die ganze Familie führen mag, wer weiß. Sicher wissen sie: Alles ist möglich. Alles Schlimme. Aber auch alles Gute.


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