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Reporter Eutin

Hellwag und das Impfen vor 200 Jahren

Eutin (t). Regine Jepp, Kennerin der Eutiner Stadtgeschichte, hat Erhellendes rund ums Thema Impfen recherchiert und zeigt: Auch Impfprobleme sind keine Erfindung der Neuzeit. Wir sagen Dank und wünschen eine spannende Lektüre:
„Wenn heute so viel über Impfen, Impfpflicht versus Impfverweigerer gesprochen und geschrieben wird, gibt das Anlass, sich einmal im Eutin vor etwa 200 Jahren umzusehen.
Christoph Friedrich Hellwag, 1754 in Calw geboren, wird 1782 Leibarzt von Friederike von Württemberg und zieht, nachdem sie den Prinzen Friedrich Ludwig von Oldenburg heiratet, mit ihm nach Oldenburg (i. O.). Sechs Jahre später übersiedelt er auf herzoglichen Wunsch nach Eutin und wird zum Hofrat ernannt. Von 1790 bis zu seinem Tod im Jahre 1835 lebt die Familie - es gehören sieben Kinder dazu - in der Riemannstraße 2 in Eutin, das Gebäude ist als sogenanntes „Hellwag-Haus“ bis heute erhalten. 1799 wird er zum Physikus, vergleichbar dem heutigen Amtsarzt, des Fürstentums Lübeck und hat als solcher für die öffentliche Gesundheitspflege im Fürstentum zu sorgen.
Als überaus gut vernetzter Mediziner und Wissenschaftler ist er über die gängigen Forschungen anderer Ärzte in Mitteleuropa informiert. Er widmet sich intensiv den Studien anderer und führt diese durch eigene Experimente fort.
Vor 1800 sind die Pocken ebenso eine Geißel der Menschheit wie die Pest. Allerdings kehren die Blattern in regelmäßigen Abständen wieder, so dass ein Menschenleben schon zehn Mal eine solche Epidemie erleben kann. Wer die Krankheit überstanden hat, ist vor weiterer Ansteckung gefeit, aber meist auch für sein Leben gekennzeichnet. Behinderungen wie Taub- oder Blindheit können Folgen der Erkrankung sein. Der erheblichen Ansteckungsgefahr kann nur durch frühzeitige Isolierung der Erkrankten begegnet werden.
Im späten 18. Jahrhundert werden erste Impfungen mit Menschenblattern durchgeführt. Das Verfahren erweist sich aber als sehr trügerisch, denn zahlreiche Impflinge sterben einen grausamen Tod. Zu dieser Zeit lässt eine Beobachtung neue Hoffnung aufkeimen. An verschiedenen Orten wird erkannt, dass Melkmädchen, die sich mit den ungefährlichen Kuhpocken infizieren, auch gegen die gefährlichen Menschenpocken gefeit sind. Damit beschäftigen sich mehr oder weniger zeitgleich engagierte Wissenschaftler. In England entwickelt der Arzt Edward Jenner eine Impfmethode und veröffentlicht diese ab 1798. Der Siegeszug dieser Vaccination - von Vacca lat. Kuh - beginnt.
In Eutin erkennt Christoph Friedrich Hellwag sofort die Bedeutung dieser Forschungen, doch schon damals ist der britische Impfstoff knapp. Durch einen befreundeten Arzt erhält er von einer gesunden Melkerin, die Kuhpocken an den Händen hat, Materie, aus der er ein Serum entwickelt und behandelt damit seine jüngste Tochter Gesine Christiane Henriette, genannt Jette. Da in Lübeck die Pocken grassieren, unternimmt er - mit ausdrücklicher Zustimmung des Herzogs - 15 weitere Impfungen. Er erstellt ein Vakzin, das er auch nach Lübeck und Segeberg liefert.
Die Einbürgerung der Kuhpockenimpfung fördert Hellwag durch eine intensive Öffentlichkeitsarbeit. Die seit Oktober 1802 erscheinenden „Eutinischen Wöchentlichen Anzeigen“ bieten Gelegenheit, auf die „Inoculation“ hinzuweisen. Schon im März 1803 druckt der Anzeiger die Hellwagschen „Empfehlungen der Kuhpockenimpfung“.
Die Pockenimpfung wird einige Jahre später zur Impfpflicht. Als 1831 eine Cholerawelle Norddeutschland erreicht, veranlasst er die sofortige Bildung von Gesundheitskommissionen, die eine Ausbreitung der Epidemie im Eutiner Gebiet verhindern sollen.
Doch bei allem Erfolg, sind Impfgegner keine Erfindung der Neuzeit. Auch Hellwag wird unterstellt, dass die Kuhpockenimpfung der Erkrankung der „häutigen Bräune“, heute Diphtherie genannt, Vorschub leistet, ein Vorwurf der ähnlich abstrus ist, wie die Idee, dass der Corona-Impfstoff zu von Bill Gates gesteuerten Zombies führt. Als Antwort veröffentlicht Hellwag im November 1811 ein eindeutiges Bekenntnis: „Kein Mittel in der Heilkunst hat sich so oft bewährt, keines ist so schnell in allen Ländern und Weltteilen berühmt [ge]worden als die Kuhpockenimpfung. Wer das weiß und sich als Menschenfreund über diese himmlische Wohltat freut, kann ohne gerechten Unwillen es nicht ansehen, wenn teils unwissende Menschen sich anmaßen, zärtlich gesinnte Eltern durch ihre Warnungen zu beunruhigen, teils eitle nicht unwissende Schalke gar die Kuhpocken beschuldigen, sie hinterlassen den Keim zur häutigen Bräune. Dergleichen Menschen ist keine gute Sache, kein guter Name heilig.“
Dieses Bekenntnis - sprachlich sicherlich heute ungewohnt - hat inhaltlich nichts von seiner Aktualität verloren und ist von beeindruckender Stringenz.“


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