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Forum GGS-Strand zum Thema „Holocaust“: Zeitzeuge Jurek Szarf: „Ich erzähle, solange ich kann“

Timmendorfer Strand. Im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Forum GGS-Strand“, die nach langer Zwangspause wieder stattfinden konnte, hat die GGS-Strand Europaschule in Timmendorfer Strand die Zehntklässler sowie Elternvertreter, Freunde und Förderer zu einem besonderen Ereignis eingeladen. Als Gast konnten Schulleiterin Esther Passig und Geschichtslehrer Ekkehard Rawohl am 21. April einen der letzten Zeitzeugen des Holocausts, Jurek Szarf aus Stockelsdorf, willkommen heißen.

Als Ehrengäste konnte Esther Passig neben dem 2. stellvertretenden Bürgermeister Andreas Müller, der ein Grußwort sprach, auch die neue Schulrätin des Kreises Ostholstein, Anja Bück, begrüßen. Die Grund- und Gemeinschaftsschule in Timmendorfer Strand ist die erste Schule, die sie in ihrem neuen Amt besucht.

Der 89-jährige Holocaust-Überlebende Jurek Szarf ist einer der letzten Zeitzeugen. „Es gibt kaum noch jemand, der darüber berichten kann, weil fast niemand mehr lebt,“ so Szarf, der jahrzehntelang nicht über das Erlebte sprechen konnte. Inzwischen besucht er seit mehr als 20 Jahren die Schulen und hält unter dem Motto „Ich erzähle, solange ich kann“ Vorträge vor Jugendlichen. Im Jahre 2020 hat er für sein Engagement das Bundesverdienstkreuz erhalten, das er auch nach Timmendorfer Strand mitgenommen hat.
 


Jurek Szarf wurde mit sechs Jahren zusammen mit seiner Familie für vier Jahre in das Ghetto Lodz verschleppt. Die dort festgehaltenen Juden mussten Zwangsarbeit leisten und wurden später zum größten Teil in Konzentrationslagern deportiert und dort ermordet. Jurek Szarf war in den Konzentrationslagern in Ravensbrück, Königswusterhausen und Sachsenhausen.

Geschichtslehrer Ekkehard Rawohl sagte kurz vor dem Vortrag des Zeitzeugens Szarf: „Das Leid wurde lange Zeit verdrängt und wir sind sehr dankbar dafür, dass Jurek Szarf uns von seinem Erlebten erzählt.“

Jurek Szarf, am 12. März 1933 im polnischen Lodz geboren, beginnt zu erzählen und berichtet von seiner ersten Begegnung mit den Nazis: „Ich erinnere mich noch daran, dass meine Mutter mir gerade die Schnürsenkel meiner Schuhe zu gemacht hat, als die SS die Wohnung meiner Eltern stürmte. Ein SS-Mann hat mich hochgenommen und gegen die Wand geschleudert, so dass ich ohnmächtig geworden bin.“ Damals war er gerade sechs Jahre alt. „Wir wohnten im Haus meines Opas, der vermögend war, und die SS-Männer suchten im Haus nach Dollars, Gold und Wertgegenstände.“

Im Jahre 1940 ging es ins abgesperrte Ghetto in Lodz, wo Zwangsarbeit geleistet wurde. „Wer weiße Haare hatte, galt als alt, egal wie alt die Person war, und wurde in ein Konzentrationslager gebracht, genauso alle Kinder unter zehn Jahren,“ so Szarf. „Der Massenmörder Hans Biebow war der Gauleiter (Verwaltungschef) des Ghettos. Er war Alkoholiker und sein Hobby war es, Leute zu erschießen - aus seinem fahrenden Cabrio heraus – so wie andere Karnickel erschießen, erschoss Biebow Menschen. Juden waren ja keine Menschen.“ Der Deportation entging der kleine, siebenjährige Jurek nur, weil seine Tante für Hans Biebow arbeitete. „Meine Tante meldete sich für eine leitende Stelle, da sie wie gefordert deutsches Abitur hatte, und wurde so Chefsekretärin des Ghettos.“ Das rettete Jurek Szarf das erste Mal das Leben. „Sie hat von Gauleiter Biebow eine Lebensbescheinigung für ihren Neffen, also für mich, bekommen.“
 


Jurek Szarf erzählt weiter, während die Schüler und Gäste interessiert und gespannt zuhören: „Biebow hatte zwei Kinder. Als sein Junge krank wurde, hat ein jüdischer Arzt ihm geholfen. Als der Junge wieder gesund war, erschoss Biebow den Arzt. So verrückt war der Massenmörder Biebow.“

Im Jahre 1944, als Jurek Szarf elf Jahre alt war, ging es mit der Reichsbahn in den vollgepackten Waggon zum KZ Ravensbrück. Seine Tante hatte von der Ghetto-Leitung die Papiere für den Transport. „Die Männer wurden sofort abtransportiert, auch meine zwei Onkels und mein Vater. Ich war das einzige Kind und meine Tante sagte zum SS-Mann ,Der Kleine kommt mit mir‘ und er dachte, ich wäre der Sohn meiner Tante.“ Das rettete erneut das Leben von Jurek Szarf. „Ich war im Frauen-KZ und es war die Hölle. Da haben mich Tausende von Läusen überfallen, die mir die halben Beine weggefressen haben.“ Die nächste Station war noch im gleichen Jahr das Konzentrationslager Königswusterhausen, wo Jureks Mutter verhungert ist.

Danach ging es weiter nach Sachsenhausen, wo der junge Jurek zwei seiner Onkel und seinen Vater wiederfand. „Dort habe ich die KZ-Nummer 79297 bekommen. Meine Tante wurde auf dem Weg dorthin mit zwei weiteren Frauen lebendig aus dem fahrenden Zug geworfen, da sie krank waren.“ Was aus seiner Tante geworden ist, die ihm zweimal das Leben gerettet hat, weiß Jurek Szarf bis heute nicht.

Im KZ Sachsenhausen kam es im Jahre 1945 zur Befreiung. 31 Männer, darunter Jurek, sein Vater und sein Onkel Pawel, die im Krankenblock untergebracht waren, standen mit erhobenen Händen für die Hinrichtung vor einer Wand. „Dann stürmten russische Soldaten den Raum und haben uns in letzter Sekunde gerettet. Bis 1950 waren wir mit rund 60 Überlebenden in einem Haus in Berlin untergebracht, um wieder zu Kräften zu kommen.“

Nach der Befreiung, als Jurek Szarf 14 Jahre alt war, hätte er als Jugendlicher ins Kino gehen können, was er aber nicht tat. Den aufmerksamen Zuhörern des „Forum GGS-Strand“ erklärte er auch, warum: „Ins Kino gehen nur Menschen. Ich dachte aber, ich bin kein Mensch mehr. Denn wenn du immer beleidigt wirst, keinen Namen mehr hast und nur irgendeine Nummer bist, zudem immer nur Drecksjude oder Saujude genannt wirst, dann bist du überzeugt, kein Mensch mehr zu sein.“
 


1950 ist Jureks Vater im Alter von 50 Jahren wegen Krankheit gestorben. „Aus meiner Familie haben mein Onkel, mein Papa und ich sowie zwei Cousins den Holocaust überlebt.“ Sein Onkel ist dann in die USA ausgewandert und im Jahre 1951 wanderte auch Jurek Szarf mit 17 ½ Jahren nach New York aus. „Als ich 18 Jahre alt war, hatte ich immer noch keine Schule besucht. Ich war zwar 1949 in einer Berliner Schule, wurde aber von den jüngeren Schülern ausgelacht, da ich mit 16 Jahren nichts konnte. So war ich nur zwei Tage in der Schule.“

1972 ist Jurek Szarf mit seiner Frau, die aus Deutschland stammte, aus Amerika zurück nach Deutschland gekommen und lebt heute in Stockelsdorf.

Lange Zeit konnte er über das Erlebte nicht sprechen, aber jetzt waren die Gäste der Timmendorfer Schulveranstaltung dankbar dafür, dass er es macht und stellten noch die eine und andere Frage, die der Zeitzeuge auch beantwortete. (rk)


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