

Scharbeutz. Ein Tritt ins Gesicht zertrümmerte einer Polizistin den Kiefer und ihr Gefühl der Sicherheit. Ein einzigartiger Hilfsfonds unterstützt sie nun dabei, die unsichtbaren Narben zu heilen. Ihre Geschichte wirft ein Schlaglicht auf die täglichen Gefahren des Polizeiberufs und die gesellschaftliche Solidarität, die für die Genesung entscheidend ist.
Äußerlich wirkt Silke Anders gefasst, als sie am 1. Oktober in einem Besprechungsraum der Polizeistation Scharbeutz sitzt. Doch ihre Stimme zittert leicht, als sie zugibt: „Ich bin ein bisschen emotional, das ist tatsächlich seit der Gerichtsverhandlung so“. Die 50-jährige Polizeikommissarin, seit 33 Jahren im Dienst, spricht nicht nur über einen schlechten Tag bei der Arbeit. Sie spricht über einen Moment, der alles veränderte, und den langen, mühsamen Weg der Genesung, der darauf folgte.
Ein Routineeinsatz eskaliert
Es war ein heißer Sommertag, der 31. Juli 2024. Silke Anders und ihr Kollege wurden zu einem Wohnmobilstellplatz in Scharbeutz gerufen, wo eine Frau als „verwirrt“ gemeldet wurde. Sie trafen auf eine 32-jährige, stark alkoholisierte, zweifache Mutter. Zunächst verlief alles reibungslos. „Ich hatte einen sehr guten Draht zu der Dame“, erinnert sich die Polizistin.
Doch die Situation kippte von einer Sekunde auf die andere. Als die Beamten entscheiden, die Frau aufgrund ihres Zustandes in Polizeigewahrsam zu nehmen, wurde sie im Streifenwagen zunehmend aufsässig und löste immer wieder ihren Gurt. Nachdem Silke Anders sie schärfer ermahnt hatte, angeschnallt zu bleiben, veränderte sich das Verhalten der Frau bedrohlich. „Ihre Augen wurden von trüb plötzlich ganz klar“, beschreibt die Beamtin den Moment.
Was dann geschah, war ein Akt schockierender Gewalt. „Im Bruchteil einer Sekunde hat sie das Bein hochgerissen wie eine Kickboxerin und hat mir ins Gesicht getreten“. Der Tritt war gezielt und mit voller Wucht. Die Folgen waren verheerend: ein Jochbeinbruch und eine Kieferfraktur. Während des anschließenden Handgemenges erlitt die Beamtin zudem eine Sehnenverletzung an der rechten Hand, die operiert werden musste. Die Polizeibeamtin war vier Monate dienstunfähig.
Die unsichtbaren Verletzungen
Für eine Frau, die von sich sagt, sie sei „eigentlich immer stark“ gewesen, erwies sich die psychische Verarbeitung als der härteste Kampf. Sie kämpfte sich zurück in den Beruf, den sie liebt – den Beruf, zu dem sie auch ihren eigenen Sohn ermutigt hat. Sie glaubte, das Trauma verarbeitet zu haben, indem sie alles „in eine Schublade gesteckt“ und diese verschlossen hat.
Doch die Gerichtsverhandlung fast ein Jahr später, in der die Täterin wegen Schuldunfähigkeit freigesprochen wurde, riss diese Schublade mit voller Wucht wieder auf. In den Tagen nach dem Prozess reagierte ihr Körper mit aller Härte auf den Stress. Sie wurde in der Nacht nach dem Freispruch mit allen Anzeichen eines Schlaganfalls ins Krankenhaus eingeliefert. Die Ärzte fanden keine körperliche Ursache; es war ein psychosomatischer Schock. Drei Tage später erlitt sie einen Hörsturz. Die starke Frau, die 33 Jahre Polizeidienst gemeistert hatte, befand sich nun in einem „tiefen Loch“, war erneut krankgeschrieben und arbeitete mit einer Psychologin daran, diese Schublade wieder zu schließen.
Ein Anker in der Not: Der HUPF
An diesem Punkt trat der Hilfs- und Unterstützungsfonds für Polizeibeschäftigte und deren Familien in Not e.V. (HUPF) auf den Plan. Gegründet im Jahr 2001, nachdem ein Polizeibeamter im Dienst getötet wurde, bietet die gemeinnützige Einrichtung verletzten Beamten Unterstützung. „Wir kommen dann zum Einsatz, wenn die Polizeibeamtinnen und -beamten länger als vier Wochen krankgeschrieben sind“, erklärt der HUPF-Vorsitzende Andreas Breitner.
Der Fonds, der sich rein aus Spenden sowie Bußgeldern von Gerichten und Staatsanwaltschaften finanziert, hat seit seiner Gründung in über 360 Fällen mit mehr als 320.000 Euro geholfen. Die häufigste Form der Unterstützung ist eine „Kur- und Betreuungsmaßnahme“ – meist ein Erholungsurlaub in Deutschland, der helfen soll, die seelischen Wunden zu heilen. „Unsere Unterstützung ist ein wichtiges Zeichen gesellschaftlicher Solidarität“, so Breitner.
Für Silke Anders und ihren Mann bedeutet das eine siebentägige Reise ins Erzgebirge – eine Chance, Kraft zu tanken. „Das kommt genau zur richtigen Zeit“, sagte sie mit spürbarer Dankbarkeit.
Eine gefährliche Realität
Die Geschichte von der Scharbeutzer Polizistin ist kein Einzelfall. Gewalt gegen Polizeibeamte ist in Schleswig-Holstein ein wachsendes Problem. Im Jahr 2024 wurden 1.533 Taten registriert – das sind durchschnittlich mehr als vier Übergriffe pro Tag. Diese Angriffe führten im vergangenen Jahr zu 441 Tagen, an denen Polizistinnen und Polizisten dienstunfähig waren.
„Wenn Sie morgens aus dem Haus gehen, wissen Sie nicht, ob Sie abends wieder gesund zu Ihrer Familie zurückkommen“, stellt Breitner fest. „Das, was Ihnen widerfahren ist, ist ein richtiges Beispiel dafür, welchen besonderen Gefahren und Risiken Polizeibeamte ausgesetzt sind“.
Vorerst konzentriert sich Silke Anders auf ihre Genesung, gestärkt durch die Zuwendung des HUPF. Ihre Entschlossenheit ist ungebrochen. „Ich komme zurück und ich werde auch weiterhin meinen Beruf ausüben, so wie ich es mir vorstelle“, verspricht sie. „Ich werde in keinem Büro verschwinden“. Ihre Geschichte ist eine eindringliche Mahnung an die Risiken, die mit dem Tragen einer Uniform verbunden sind – und an die tiefgreifende Bedeutung einer Gesellschaft, die hinter ihren Beschützern steht, wenn diese selbst zu Opfern werden.
Die Staatsanwaltschaft hat übrigens gegen das Gerichtsurteil Berufung eingelegt. Dann wird erneut der Gerichtsprozess vorm Landgericht stattfinden, das heißt nochmal alles von vorn. (rk)
LINK-TIPP: Hier geht es zu einem Video über den Pressetermin: https://youtu.be/AXiMOrblcCs?si=e17IZLEqSSP4zyeN