Aus dem Leben einer Hundertjährigen

Marlies Henke 697
Von einem Fräulein vom Amt zur reiselustigen Dame: Irmgard Eybe.

Von einem Fräulein vom Amt zur reiselustigen Dame: Irmgard Eybe.

Bild: Marlies Henke

Neustadt in Holstein. „Wo soll ich nur anfangen?“, fragt Irmgard Eybe, als gerade ihr Telefon klingelt. Der Anrufer wird freundlich unterbrochen: „Können wir später telefonieren? Ich hab gerade die Presse hier. Tschüss, mein Deern.“ Flink drückt sie die Hörertaste, verstaut das Telefon in ihrer Handtasche und wartet mit wachen Augen auf die erste Frage. So beginnt das Gespräch mit einer Hundertjährigen. Eine Stunde voller Geschichten und Geschichte. Ein Leben.
 
der reporter trifft die Jubilarin an ihrem besonderen Geburtstag im DRK-Pflegezentrum am Mühlenblick. „Am Besten unterhalten wir uns auf dem Zimmer“, sagt sie. Wir verlassen den Tagesraum, wo gerade der Geburtstagskuchen angerührt wird. „Da kann ruhig noch mehr Eierlikör rein“, gibt sie letzte Anweisungen. Später verrät sie augenzwinkernd: „Dann bleibt er länger frisch.“
 
Das dreistellige Alter sieht man Irmgard Eybe nicht an. Und sie kann es selbst kaum glauben. Auf die Frage, wie man sich mit Hundert fühlt, antwortet sie: „Irgendwie komisch. Aber irgendwie ist es auch schön. Heute haben hier schon so viele gratuliert und mir hübsche Rosen, Geschenke und Post gebracht.“ Früher hätte sie gedacht, 100 Jahre sind lang. „Ja, wenn man sie vor sich hat. Aber wenn ich zurück denke, war das gar nicht so lang.“ Doch dann kommen sie nach und nach, die vielen Erinnerungen. An ihre Kindheit, ihre Zeit als Kindermädchen in Schweden, an die Arbeit und den Gemüsegarten, an Familie, Nachbarn und Freunde, an ferne Länder und an „tohuus“.
 
Irmgard Eybe wurde am 4. Mai 1921 als Irmgard Hahn in Neustadt geboren. Kaiser Wilhelm II. hatte drei Jahre zuvor abgedankt, in den Wirren der Revolution war die Weimarer Republik ausgerufen worden. Das Leben in Neustadt, aus heutiger Sicht beschwerlich. „Es gab kein Gas, kein Licht, kein fließendes Wasser im Haus. Wer keinen eigenen Brunnen hatte, ging mit zwei Eimern zum Marktplatz. Dort gab es drei Zapfstellen. Manche bevorzugten einen ganz bestimmten Hydranten, dessen Wasser als das Beste galt, wenn man Erbsensuppe kochen wollte.“
 
Auch an den ersten Schulausflug erinnert sich die Hundertjährige: „Das war aufregend. Wir sollten mit der Eisenbahn fahren. So etwas kannten wir nicht. Es ging nach Eutin und von dort aus zu Fuß zum Ukleisee.“ 1936 besuchte sie die Haushaltsschule in Flensburg. Danach, als 17-Jährige, fuhr sie allein nach Uppsala, um den Haushalt einer schwedischen Familie zu führen. „Meine erste Reise! Das war eine wunderschöne Zeit, diese Mittsommerabende“, sagt Irmgard Eybe begeistert und fährt ernst fort: „Allerdings brodelte es, der Krieg begann und ich konnte nicht wie geplant ein ganzes Jahr bleiben. Ich brauchte Bescheinigungen von zehn Stellen, damit ich als ‚ordentliche, nicht vorbestrafte‘ Frau ein viertel Jahr bleiben durfte.“
 
Wieder in Deutschland begann sie beim Fernamt Neustadt als „Fräulein vom Amt“. Denn selbst wählen – das gab es damals noch nicht. Jedes Gespräch wurde per Hand über einzelne Anschlussbuchsen vermittelt. „Stöpseln nannten wir das.“ Arbeit, die ihr Spaß machte und für die sie ihren eigentlichen Traum, eine Ausbildung zur Krankenschwester, endgültig an den Nagel hängte.
1959 heiratete sie Kurt Eybe, Vater von drei Kindern und Uhrmachermeister. Gemeinsam wurde ein Gold- und Silberwarengeschäft eröffnet, ein Haus bezogen, ein Garten mit Gemüse und Blumen angelegt.
Bis zum Tod ihres Mannes unternahm das Paar viele Reisen. Durch ganz Europa, auf die Mittelmeerinseln, mit dem Auto und mit Reisegesellschaften. „Ach, es juckt mir in den Fingern, wenn ich ans Reisen denke. Wenn ich mobiler wäre, ich würde heute noch in die Welt ziehen“, schwärmt Irmgard Eybe. Später fand sie in Hermann Künze einen neuen Lebens- und Reisegefährten. „Wir waren dann 21 Jahre zusammen, bis zu seinem Tod, drei Tage vor seinem 99. Geburtstag.“
 
Leid gehöre zum Leben dazu, genau wie die Freude, weiß Irmgard Eybe. Heute ist sie dankbar über die vielen liebevollen Kontakte zu den Kindern, vier Enkeln und vier Urenkeln. Zu Nachbarn und Freunden, die sie nicht vergessen haben. Wie der liebe alte Bekannte, der sie am Nachmittag zum Geburtstagskaffee abholt. „Eigentlich müssten ja alle zusammenkommen an einem 100. Geburtstag. Wegen Corona geht das nun nicht. Aber wir holen das nach.“ (he)