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Reporter Eutin

Wie tolerant sind wir wirklich?

Eutin (aj). Es kommt vor -und durchaus nicht selten- , dass Menschen ihrem Mann hinterherstarren. Manchmal bleibt Alfreda Henß dann stehen und fragt: „Und, gefällt Ihnen mein Mann?“ Warum die Leute gucken, weiß sie nur zu gut: Der Ehemann der Sonderschullehrerin ist nach einem Unfall vor vielen Jahren körperlich beeinträchtigt. Er hat sein Leben gemeistert, ist ein liebevoller Familienvater, geht vollkommen in seinem Beruf als Lehrer an einer Beruflichen Schule auf, lebt wie viele andere auch. Mit dem Unterschied, dass er wegen seines Handicaps täglich mit Blicken, Bemerkungen, Behinderungen zurechtkommen muss: „Es ist so häufig die Rede von Toleranz, Respekt und Offenheit. Aber Menschen, die nicht dem gängigen Bild entsprechen, erleben ganz viele Kränkungen“, berichtet Alfreda Henß. Häufig steckt vermeintliche Achtlosigkeit dahinter, etwa, wenn das Auto auf dem Behinderten-Parkplatz abgestellt wird. Bei einem entsprechenden Hinweis kommt dann nicht selten die Antwort, wenn ein behinderter Mensch käme, führe man natürlich weg: „Darüber, welchen Aufwand das für jemanden bedeutet, der nur sehr eingeschränkt mobil ist, machen sich die meisten Menschen keine Gedanken“, sagt Alfreda Henß. Es ist ein Mangel an Empathie, an aktiver Toleranz, der ihr auch in ihrem beruflichen Alltag immer wieder begegnet. Als Pädagogin hat sie viele Jahre intensiv mit taubblinden Kindern gearbeitet, heute leistet sie Beratung für sehgeschädigte Kinder in deren schulischem Umfeld. Und mag auch Inklusion als Schlagwort im Sprachgebrauch verankert sein, die Vorurteile gegenüber Menschen mit Behinderungen sind noch längst nicht überwunden. So bekam Alfreda Henß auf eine Nachfrage zum Stellenwert von Inklusion bei einer Vorstellungsveranstaltung zur Bürgermeisterwahl die Antwort, Inklusion sei wichtig und für Menschen mit Behinderungen müsse es Verständnis geben, auch wenn sie nicht die Leistungen erbringen könnten wie andere: „Dieses Bild in der Gesellschaft muss geradegerückt werden“, fordert die Eutinerin mit Nachdruck. Denn sie weiß aus eigener Erfahrung, dass Menschen mit Handicap häufig sogar mehr leisten müssen als andere.
Als Interessenvertretung für Seniorinnen und Senioren sowie für Menschen mit Behinderungen agieren in Eutin Brigitte Schmidt-Künzel und Johannes-Georg Beitz. Als Senioren- und Behindertenbeauftragte nehmen sie an den Zusammenkünften der städtischen Gremien teil und versuchen, ihre Perspektive in die Entscheidungsfindung einzubringen. Was es bedeutet, nur eingeschränkt mobil zu sein, weiß Brigitte Schmidt-Künzel aus eigenem Erleben. Krankheitsbedingt ist sie auf eine Orthese angewiesen. Während sie auf ihren täglichen Wegen viel Hilfsbreitschaft und Unterstützung erfährt, sind die Voraussetzungen für Bewegungsfreiheit ansonsten verbesserungswürdig: „Das beginnt beim Parken: Es kommt immer wieder vor, dass Menschen, die wie ich nicht uneingeschränkt mobil sind, trotzdem keinen Sonderausweis für eine Parkberechtigung auf einem Behindertenparkplatz bekommen“, berichtet die engagierte Ehrenamtlerin. Weitere Beispiele für eine erschwerte Teilhabe sind der Fahrstuhl in der Beruflichen Schule, für den man einen Schlüssel braucht, zahlreiche Stolperfallen, Werbeaufsteller auf Orientierungshilfen für Blinde oder nicht markierte Stufen. Häufig seien Veränderungen schon mit wenig Aufwand umsetzbar: Ein Lichtschalter an der rechten Stelle, Verkehrsschilder auch für Menschen mit Sehbeeinträchtigung beispielsweise. Einen konkreten Eutiner Missstand hat Johannes-Georg Beitz aufs Tableau gehoben: „Wir brauchen ein stets zugängliches, wirklich behindertengerechtes WC in der Stadt“, lautet seine Forderung. Grundsätzlich müssten bei allen Planungen die Anforderungen von Menschen mit Beeinträchtigungen berücksichtigt werden: „Warum fragt man uns nicht vorher, ob wir einen Vorschlag haben?“, regt Schmidt-Künzel an. Teilhabe ist bei alldem das zentrale Stichwort.
Dass es indes nicht nur am schwer begehbaren und wenig rollitauglichen Straßenpflaster liegt, wenn sich Menschen zurückziehen, weiß Alfreda Henß. So riet der Arzt einer Mutter mit einem Kind im Rollstuhl: „Gehen Sie mit Ihrer Tochter raus! Verkriechen Sie sich nicht!“ Eine Empfehlung, die zeigt, wie weit unsere Gesellschaft offenbar immer noch von einem selbstverständlich respektvollen Umgang mit Behinderung entfernt ist: „Es gibt die Leute, die die Straßenseite wechseln, und es gibt die Blicke, die Schmähungen“, schildert Henß ihre Beobachtungen. Und auch der Sprachgebrauch spiegelt Respektlosigkeit wider: „Betitelungen wie Krüppel und Hinkebein sind zu hören und behindert wird als Schimpfwort benutzt“, empört sie sich. Ihr Mann hat die Kraft, sich gegen gegen Taktlosigkeit und Dummheit zu behaupten. Das heißt nicht, dass ihn die Verletzungen nicht schmerzen. Andere Menschen halten sich still zurück und meiden den öffentlichen Raum. Wer in einer bunten, menschenfreundlichen Gesellschaft leben möchte, darf genau das nicht zulassen. Und das macht den Kampf um Teilhabe zu einer Aufgabe für jede und jeden von uns.


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