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Marlies Henke

Neustadt erinnerte an die Opfer der Cap-Arcona-Katastrophe

Neustadt in Holstein. Kurz vor Kriegsende, am 3. Mai 1945, werden die „Cap Arcona“ und die „Thielbek“ in der Neustädter Bucht von britischen Alliierten angegriffen und versenkt. Die Royal Air Force vermutet deutsche Truppen auf den Schiffen, doch an Bord befinden sich 7.500 Häftlinge – die meisten aus dem Konzentrationslager Neuengamme. 7.000 Menschen verbrennen, ertrinken oder werden erschossen.
 
Das Erinnern an dieses unermessliche Leid ist keine einfache Aufgabe. Die Geschehnisse um den 3. Mai und die Gräueltaten des 2. Weltkrieges sind über 77 Jahre her. Alljährliche Gedenkfeiern sind ein probates Mittel, um die Opfer nicht zu vergessen. Sie sind auch ein Appell, uns unserer komplexen und grausamen Vergangenheit immer wieder bewusst zu werden.
Wie zeitgemäßes, gemeinsames Gedenken aussehen könnte, damit haben sich die Amicale Internationale Neuengamme (AIN), das Kinder- und Jugendnetzwerk Neustadt (KJN) und die Stadt Neustadt auseinandergesetzt. „Ziel war es, die Erinnerungskultur rund um die Cap-Arcona-Katastrophe insbesondere im Jugendbereich voranzubringen und mitzugestalten“, wie Mano Salokat vom KJN erklärte. Das Ergebnis: Hunderte interessierte Besucher und bewegende Momente.
 
Mit vielen Mitwirkenden wurde die traditionelle Gedenkfeier darum um einen zweiten Veranstaltungstag erweitert. Und das hieß: Open-Air-Kino mitten in der Stadt, Gespräche mit Nachkommen von Opfern und Überlebenden sowie ein Podcast mit Erinnerungen von hiesigen Zeitzeugen. Schülerchöre sangen das Lied vom Moorsoldaten und die Anti-Kriegs-Hymne „Blowin’ in the Wind“. Der Historiker Professor Bill Niven beleuchtete mit kritischem Blick die britische Erinnerungskultur. Nachkommen von KZ-Häftlingen berichteten aus persönlicher Sicht, wie ihre Familien mit der Geschichte ihrer Vorfahren umgegangen sind.
 
Wie wichtig es ist, dass das Gedenken mit Leben erfüllt ist, machte die Vizepräsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landtages Kirsten Eickhoff-Weber deutlich: „Bürgerschaftliches Engagement, die Bereitschaft zu erzählen und zuzuhören und eben nicht mehr zu ‚beschweigen‘, das alles ist unverzichtbar und muss weiter in unserer Gesellschaft wirken. Denn Antisemitismus, Rassismus und Hass auf alles Fremde sind nicht aus der Welt und auch nicht aus Deutschland verschwunden.“
 
Einer der vielen emotionalen Momente war auch die Rede von Magdalena Wajsen am Ehrenmal. Sie ist die Enkelin von Kazimierz Wajsen aus Polen, Häftling des KZ Neuengamme und Überlebender der Katastrophe. Magdalena Wajsen beschrieb, was sie nach dem Tod ihres Großvaters über dessen Leben herausgefunden hatte und betonte: „An viele Opfer der Katastrophe in Neustadt erinnert niemand. Deshalb ist es wichtig, dass wir hier sind. Dass wir darüber sprechen. Jeder Mensch für sich, als Individuum, verdient unser Gedenken.“
 
In vielen Wortbeiträgen war mit dem russischen Krieg gegen die Ukraine eine weitere Perspektive in den Fokus gerückt. „Ein wichtiger Wunsch von uns allen ist, dass dieses sinnlose Morden bald endgültig vorbei ist“, sagte Bürgervorsteher Sönke Sela.
Die Überlebenden der Katastrophe und des Konzentrationslagers Neuengamme hätten am eigenen Leib erfahren, wie wenig selbstverständlich Frieden und Sicherheit sind, hieß es in den Grußworten der AIN-Präsidentin Dr. Martine Letterie. Auch Bernard Jeune, Sohn von Eugène Jeune, der auf der Cap Arcona starb, sagte: „Obwohl man beim Vergleich verschiedener Kriegstragödien vorsichtig sein muss, haben mich die schrecklichen Folgen der Bombenangriffe auf Mariupol und andere Städte in der Ukraine wieder an all das erinnert, was mein Vater in seinen letzten Jahren erlebt hatte.“
 
Im Anschluss der Grußworte präsentierten Schülergruppen ihr Kunstprojekt zu Roger Vyvey, einem Überlebenden der Cap Arcona, ehe die Gedenkfeier mit einem Kaddish beendet wurde. Die gesamte Veranstaltung wird als Videostream auf dem YouTube-Kanal der Stadt Neustadt zur Verfügung gestellt. (he)
 

Gedenken zum 77. Jahrestag der Bombardierung der Häftlingsschiffe am 3. Mai 1945 – Die Reden

Das Gedenken hat viele Facetten. der reporter präsentiert darum an dieser Stelle die Reden der Cap-Arcona-Gedenkveranstaltung vom 3. Mai am Cap-Arcona-Ehrenmal. Die Übersetzungen und Manuskripte wurden der Redaktion freundlicherweise von der Amicale Internationale Neuengamme zur Verfügung gestellt.
 
Kirsten Eickhoff-Weber, Vizepräsidentin des Schleswig-Holsteinischen Landtages:
"Sehr geehrter Herr Bürgervorsteher Sela, sehr geehrte Frau Dr. Letterie, sehr geehrte Frau Wajsen, sehr geehrter Herr Jeune, sehr geehrte Mitglieder der jüdischen Gemeinde Lübeck meine sehr geehrten Damen und Herren, liebe Angehörige und Nachfahren der Opfer des NS-Regimes,
wir haben uns heute hier versammelt, um der 7.000 Toten zu gedenken, die vor 77 Jahren Opfer des barbarischen Vernichtungswahns der Nationalsozialisten und Opfer des grausamsten Menschheitsverbrechens wurden, das die Welt bisher erleben musste. Sie haben hier ihre letzte Ruhe, ihr „ewiges Haus“, in Sichtweite des Ortes gefunden, an dem sie starben. Und – das dürfen wir nie vergessen! – sie haben Ihre letzte Ruhe dort gefunden, wo Ihre Unterdrücker und Mörder lebten.
 
Kann ein Mensch, kann eine Seele, so zur Ruhe kommen? Ihnen, den Angehörigen der Opfer der Bombardierung der Cap Arcona, der Thielbek und der Athen am 3. Mai 1945, stellt sich diese Frage ebenso wie uns, den Nachfahren der Generation, die diesen millionenfachen Mord begangen hat. Dass wir heute hier gemeinsam stehen und gemeinsam der Opfer gedenken, zeigt, dass seit damals ein Weg beschritten wurde, der vor 77 Jahren noch unvorstellbar war. Wir sind dankbar, dass heute, stellvertretend für alle Opfer, zwei Nachfahren das Wort ergreifen. Sie, verehrte Frau Wajsen, und Sie, verehrter Herrr Jeune, werden für Ihren Großvater und Ihren Vater sprechen, die damals Opfer einer grausamen Inszenierung der SS in der Neustädter Bucht wurden. Geschichte scheint oft weit weg zu sein. Aber Angehörige, Eltern und Geschwister, die sind und bleiben einem nah. Und wenn Sie heute an Ihre ermordeten Angehörigen erinnern, dann berührt uns dies in ganz besonderem Maße.
 
Zum Totengedenken gehört das Kaddish, das jüdische Totengebet, das heute von Mitgliedern der jüdischen Gemeinde Lübeck gesprochen wird. Wir sind dankbar, dass jüdisches Leben mittlerweile wieder ein fester Teil unserer Gesellschaft ist, dass 77 Jahre nach der Shoa wieder jüdische Gemeinden hier in Schleswig-Holstein Gottesdienste feiern. Jüdisches Leben gehört zu uns und jede Demokratin, jeder Demokrat muss dafür Sorge tragen, dass sich jüdisches Leben heute frei entfalten kann.
 
Es ist ein großes Geschenk, dass wir heute gemeinsam mit Ihnen der Opfer gedenken dürfen. Angesichts der unbeschreiblichen Verbrechen der Vergangenheit empfinden wir Demut und Dankbarkeit für das Wunder der Versöhnung. Hierzu haben auch die Stadt Neustadt, die Amicale Internationale KZ Neuengamme, das Kinder- und Jugendnetzwerk Neustadt und viele weitere Initiativen beigetragen, die den Prozess der Aufarbeitung der Vergangenheit aktiv unterstützen. Viele Bürgerinnen und Bürger haben dabei mitgewirkt und in Eigeninitiative das Erinnern und Gedenken an den Tag von vor 77 Jahren bis heute mitgestaltet.
 
Die Erinnerung an die Verbrechen des Nationalsozialismus verlöre an Bedeutung, wenn sie allein von staatlicher Seite aus aufrechterhalten würde. Das Gedenken ist nur dann glaubwürdig und es kann nur dann mit Leben erfüllt werden, wenn es aus uns selbst heraus, aus einem inneren Bedürfnis und der persönlichen Betroffenheit von uns Bürgerinnen und Bürgern, kommt. Bürgerschaftliches Engagement, die Bereitschaft zu erzählen und zuzuhören und eben nicht mehr zu „beschweigen“, das alles ist unverzichtbar und das alles muss weiter in unserer Gesellschaft wirken. Denn Antisemitismus, Rassismus und Hass auf alles Fremde sind nicht aus der Welt und auch nicht aus Deutschland verschwunden.
 
Unser gemeinsames Totengedenken ist deshalb nicht allein eine Erinnerung und eine Würdigung der Opfer, es ist auch mahnender Auftrag an uns, alles dafür zu tun, dass ein solches Menschheitsverbrechen nie wieder geschieht. Vor dem Erbe der Vergangenheit müssen wir uns als überzeugte Demokratinnen und Demokraten mit klarer Haltung und Entschlossenheit gegen Antisemitismus, Rassismus und jedwede Form von Ausgrenzung und Ablehnung stellen. Wir alle tragen die Verantwortung dafür, jeden Tag, egal, wo wir sind.
 
Meine Damen und Herren, Ihnen allen danke ich, ganz besonders den Angehörigen der Opfer. Lassen Sie uns heute gemeinsam die Toten ehren und uns ihrer erinnern, damit ihr Leid niemals vergessen werde. Ihr Schicksal möge die kommenden Generationen zu Verständigung, Versöhnung und Frieden mahnen! Ich danke Ihnen."
 
Martine Letterie, Präsidentin der Amicale Internationale KZ Neuengamme:
"Sehr geehrte Vizepräsidentin des Landtages, sehr geehrter Bürgervorsteher der Stadt Neustadt, liebe Magda, lieber Bernard, liebe Überlebende des KZ Neuengamme, liebe Angehörige, liebe Freundinnen und Freunde,
mein Name ist Martine Letterie und ich bin Präsidentin der Amicale Internationale KZ Neuengamme, dem Dachverband der Neuengamme-Freundeskreise aus Belgien, Dänemark, Deutschland, Frankreich, den Niederlanden, Polen und Spanien. Bei uns haben sich ehemalige Gefangene des Konzentrationslagers Neuengamme und ihre Angehörigen zusammengeschlossen. Heute gedenken wir der Katastrophe, die sich hier kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkriegs ereignete.
 
Während Montgomery in der Lüneburger Heide mit einer deutschen Delegation über die Kapitulation verhandelte, griffen englische Typhoons am 3. Mai 1945 um 15 Uhr in der Lübecker Bucht die Schiffe Cap Arcona und Thielbek an, in der Annahme, dass sich deutsche Truppen an Bord befänden. Nichts war weniger wahr als das. In den Tagen zuvor waren Tausende von Häftlingen aus dem KZ Neuengamme auf diesen Schiffen und auf der Athen zusammengepfercht worden, als das Lager geräumt wurde. Auf diese Weise versuchten die Nazis, die Spuren des Gräuels, das sich in Neuengamme ereignet hatte, zu verwischen.
 
Die Bedingungen für die Häftlinge auf den Schiffen in den Tagen vor dem 3. Mai waren womöglich noch schlimmer als die im Konzentrationslager. Es gab kaum Licht und Luft, und manche bekamen tagelang nichts zu essen. Zum Zeitpunkt des Angriffs der englischen Flugzeuge befanden sich etwa 7.000 Gefangene an Bord der Cap Arcona und 2.500 bis 3.000 an Bord der Thielbek. Die Cap Arcona fing Feuer und die Thielbek sank fast sofort. Auf beiden Schiffen brach die Hölle aus. Die Gefangenen versuchten, ihr Leben zu retten, aber nur wenigen gelang dies. Die meisten von ihnen sind ertrunken oder verbrannt. Die englischen Flugzeuge schossen auf die Ertrinkenden und deutsche SS-Männer und Jungen der Hitlerjugend auf diejenigen, die die Küste erreichten.
 
7.000 Menschen starben einen entsetzlichen Tod. In einem niederländischen Dokumentarfilm über die Katastrophe sagte ein Einwohner von Neustadt, der damals noch ein kleiner Junge war: „Ich sah ein Meer von kahlen Köpfen. Dieses Bild habe ich mein Leben lang nicht vergessen.“ Eine Katastrophe von internationalem Ausmaß, nicht nur wegen der enormen Anzahl der Opfer, sondern auch, weil diese nicht nur aus Deutschland kamen, sondern aus allen Ländern, die von den Nazis besetzt waren oder sich mit ihnen im Krieg befanden: die baltischen Staaten, Belgien, Dänemark, Frankreich, Griechenland, Italien, Jugoslawien, Luxemburg, die Niederlande, Norwegen, die Ukraine, Polen, die Tschechoslowakei und Russland.
 
Eine Katastrophe, die nicht vergessen werden darf. Die erste Gedenkfeier wurde an dieser Stelle am 7. Mai 1945 von Vertretern der britischen Armee und den ehemaligen Häftlingen abgehalten. Dieser Ort wurde gewählt, weil sich hier die provisorischen Gräber der Opfer eines anderen schrecklichen Ereignisses befanden, das am frühen Morgen des 3. Mai stattgefunden hatte: die Hinrichtung von mindestens 257 Häftlingen des KZ Stutthof. 1946 wurde auf Initiative eines Komitees polnischer Überlebender des DP-Lagers ein Ausschuss unter der Leitung eines norwegischen Überlebenden des Konzentrationslagers Stutthof gegründet. Dieses Gremium legte die Form und die Inschrift des Denkmals fest. Der polnisch-deutsche Ex-Häftling Paul Stassek, ein ehemaliger Gefangener der Lagerschreibstube des KZ Neuengamme, verfasste den Text. Die 1947 eingeweihte Gedenkstätte wurde von den Häftlingskomitees selbst finanziert.
 
Seitdem werden hier jährlich Gedenkfeiern abgehalten. Seit mehreren Jahren organisiert die Amicale Internationale KZ Neuengamme diese gemeinsam mit der Stadt Neustadt. Die AIN schätzt die Zusammenarbeit und das Engagement der Stadt Neustadt für diese Gedenkfeier und auch das neue Museum sehr. Wir freuen uns, dass die Ereignisse des 3. Mai 1945 in Zukunft einem internationalen Publikum in angemessener und zeitgemäßer Form präsentiert werden.
 
Früher haben die Überlebenden an diesem Ort ihre Geschichte erzählt, heute tun dies ihre Angehörigen oder andere Beteiligte. Heute spricht Bernard Jeune über seinen Vater, den Franzosen Eugene Jeune, der hier am 3. Mai 1945 starb, Magda Wajsen aus Polen über ihren Großvater Kazimierz Wajsen, der die Katastrophe auf der Athen überlebte, und die Schüler des Küstengymnasiums sprechen über den belgischen Überlebenden Roger Vyvey.
 
Durch das Gedenken an dieses schreckliche Ereignis und die anderen abscheulichen Verbrechen des Naziregimes bleiben wir uns der Bedeutung des Rechtsstaates bewusst und wir sind uns in den letzten Monaten einmal mehr bewusst geworden, wie wenig selbstverständlich er ist. Die Überlebenden dieser Katastrophe und des Konzentrationslagers Neuengamme hatten dies am eigenen Leib erfahren. Nicht ohne Grund haben die Gründer der Amicale Internationale als erstes Ziel der Organisation formuliert: Erhaltung des Friedens und der europäischen Sicherheit. Sie wollten sich für internationale Annäherung, für die Stärkung der internationalen Freundschaft und für den Kampf gegen Neonazismus, Neofaschismus und Revanchismus einsetzen.
Deshalb muss die Geschichte der Katastrophe in der Lübecker Bucht weiter erzählt werden, insbesondere auch jetzt."
 
Magdalena Wajsen, Enkelin eines Häftlings des KZ Neuengamme:
"Guten Tag, ich bin glücklich, dass ich jetzt hier bin und zu euch sprechen kann, vielen Dank dafür. Mein Name ist Magdalena Wajsen, ich bin die Enkelin von Kazimierz Wajsen, Häftling des KZ Neuengamme.
 
Mein Großvater wurde im Mai 1942 als Zwangsarbeiter nach Deutschland gebracht, wo er bei einem Landwirt in Hamburg arbeitete. Im April 1944 wurde er unter dem Vorwurf, an einer illegalen Versammlung teilgenommen und patriotische Lieder gesungen zu haben, in das Straflager Hamburg-Wilhelmsburg („Langer Morgen“) eingeliefert. Zwei Monate später wurde er entlassen und zur Arbeit in einer Metallfabrik geschickt. Am 14. Oktober 1944 führte eine Sabotageaktion in der Fabrik zu seiner Verhaftung in dem Zivilarbeiterlager im Stadtteil Hamburg-Billbrook. Er und andere Männer wurden verdächtigt, an dem Vorhaben beteiligt gewesen zu sein. Einige der Inhaftierten wurden während der Verhöre grausam geschlagen.
 
Fünf Monate später, Anfang März 1945, wurde er in das Konzentrationslager Neuengamme eingeliefert. Im Lager erhielt er die Nummer 76633. In der zweiten Aprilhälfte 1945 wurde Großvater mit anderen Häftlingen nach Lübeck transportiert. Er wurde zunächst auf das Schiff Athen verladen, nach einigen Tagen wurde er mit anderen Gefangenen auf die Cap Arcona und dann wieder zurück auf die Athen gebracht. Dort blieb Großvater bis zum 3. Mai 1945.
 
Die Athen ist nicht gesunken, weil sie zurück in den Hafen gefahren war, um noch mehr Gefangene an Bord zu nehmen. Mein Großvater überlebte, er gehörte zu den Glücklichen, die ein neues Leben bekamen. Nach der Befreiung, im DP-Lager in Wentorf in der Nähe von Neuengamme, lernte Großvater Kazimierz meine Großmutter Jadwiga kennen, die eine befreite Zwangsarbeiterin war. Nach vielen schrecklichen Erfahrungen geschah etwas Wunderbares: Sie verliebten sich ineinander, gingen nach Lodz und heirateten.
 
Schon als Kind wusste ich, dass mein Großvater KZ-Häftling gewesen war, aber mehr wusste ich darüber nicht, ich habe es nicht verstanden. Mein Großvater starb, als ich erst 10 Jahre alt war. Nach dem Tod meiner Großmutter im Jahr 2014 fand ich im Haus meiner Großeltern viele Notizen meines Großvaters, Dokumente und Briefe aus der Gedenkstätte Neuengamme. Ich habe mich mit der Gedenkstätte in Verbindung gesetzt und freue mich, dass ich das Andenken meines Großvaters ehren kann, indem ich über ihn und seine Erlebnisse spreche.
 
Es war sehr emotional für mich, als ich zum ersten Mal nach Neuengamme kam, vor allem, weil mein Großvater viele Jahre lang nicht belegen konnte, dass er Häftling des KZ Neuengamme gewesen war. Er war ständig auf der Suche nach Beweisen dafür und schrieb an Arolsen und Neuengamme. Erst nach seinem Tod trafen Briefe von der Gedenkstätte ein. Leider reagierte meine Großmutter nicht darauf, vielleicht wollte sie nicht in die Vergangenheit zurückkehren.
 
Für mich war das sehr wichtig, denn viele Jahre lang wollte mein Großvater beweisen, dass er dort gewesen ist, dass er überlebt hat, aber er hat es nicht geschafft, das zu dokumentieren, dies konnte ich nicht ignorieren. Deshalb war mir nach Weinen zumute, als ich zum ersten Mal in der Gedenkstätte war, weil er hier gelitten hat, weil an diesem Ort so viele Menschen ermordet worden waren. Aber am emotionalsten war, dass mein Großvater starb, ohne dass er es geschafft hatte, mir von seinen Erlebnissen zu erzählen, denn ich war zu jung gewesen, um solche Informationen verarbeiten zu können.
 
Und hier bin ich, fast 30 Jahre nach seinem Tod, an diesem Ort, er steht auf der Liste der ehemaligen Häftlinge, niemand zweifelt mehr daran, es gibt Dokumente, die das beweisen. Im Kopf hatte ich die Worte „Schau, Opa, ich bin hier, unter diesem Himmel, auf dieser Erde.“ Jetzt kann ich über ihn sprechen, darüber, was er durchgemacht hat, was für ein Mensch er war, eben dass sich meine Großeltern in Hamburg ineinander verliebt haben.
 
An viele der Opfer der Katastrophe in Neustadt erinnert niemand, sie haben keine Familien mehr oder sie waren so jung gewesen, dass sie gar nicht geschafft hatten, eine zu gründen, deshalb ist es wichtig, dass wir hier sind, dass wir darüber sprechen. Ich denke, es ist sehr wichtig, dass wir den jungen Menschen vermitteln, was wir wissen, darüber was war, denn niemand darf es vergessen, das darf sich nicht wiederholen.
 
Jeder Mensch, jedes Opfer des Krieges war wichtig, und für jemanden konnte er der Wichtigste auf der ganzen Welt sein. Die Opfer der Neustädter Katastrophe sind nicht „sie“, das ist jeder Mensch für sich, als Individuum, jeder eine eigene Tragödie, „sie“ verdienen unser Gedenken. Ehret ihr Andenken! Nie wieder Krieg!"
 
Bernard Jeune, Sohn eines Häftlings des KZ Neuengamme:
"Ich danke Ihnen für die Einladung, diese kurze Rede über meinen Vater Eugene Jeune zu halten, der als junger Arzt im Alter von 27 Jahren am 3. Mai 1945 auf der Cap Arcona starb.
 
Er gehörte der französischen Widerstandsbewegung „Combat“ an und beteiligte sich an einer Widerstandsgruppe in meiner Heimatstadt Lyon. Als junger Arzt in einem großen Krankenhaus kümmerte er sich um die Verbindungen und Verlegungen zwischen der Stadt und den Maquis-Schulen in den Alpen, die die Aufenthalts- und Transportmöglichkeiten des Krankenhauses erleichterten.
 
Er wurde am 20. April 1944 vom „Schlächter von Lyon“, Klaus Barbie, dem Chef der Gestapo in der Stadt, verhaftet. Er wurde zunächst im berüchtigten Montluc-Gefängnis inhaftiert, wo so viele französische Widerstandskämpfer eingesperrt und von dort aus zu Verhör und Folter durch Klaus Barbie und seine Schergen in das Gestapo-Hauptquartier in Lyon gebracht wurden.
 
Einige Wochen vor der Befreiung Lyons im August 1944 wurde mein Vater mit dem Zug in das Sammellager Compiègne nördlich von Paris gebracht und von dort aus am 28. Juli 1944 mit dem Zug nach Neuengamme. In Neuengamme arbeitete er als Häftlingsarzt im Revier II. Hier arbeitete er mit anderen Häftlingsärzten aus verschiedenen Ländern zusammen, unter anderem mit einem dänischen Arzt, Gregers Jensen, der nach dem Krieg mein Stiefvater wurde. Darüber habe ich im letzten Jahr online ausführlicher berichtet.
 
Da ich erst ein halbes Jahr alt war, als mein Vater von der Gestapo verhaftet wurde, habe ich keine Erinnerung an ihn und konnte keine emotionale Bindung zu ihm aufbauen. Dennoch war er in meinem Gedächtnis und in meinen Gedanken immer präsent, ebenso wie in den Gedanken und Gesprächen meiner Familie. Ich habe oft an seinen Tod auf der Cap Arcona gedacht.
 
Ein französischer Mitgefangener, dem es gelang, ins Meer zu springen und an die Küste zu schwimmen, erzählte meiner Mutter nach dem Krieg, dass er beim Betreten des Schiffsdecks gesehen habe, wie mein Vater Gefangenen mit Brandwunden geholfen habe. Wenn das stimmt, dann ist er erst nach den Bombenangriffen gestorben. Aber wie ist er gestorben? Ist er zu Tode verbrannt, wie viele der Gefangenen, denen er zu helfen versuchte? Ist er erstickt oder ertrunken? Wahrscheinlich ist er nicht selbst ins Meer gesprungen, da er nicht schwimmen konnte (er war Läufer und Bergsteiger). Obwohl wir einige Berichte von Gefangenen haben, die die Hölle der bombardierten Cap Arcona überlebt haben, ist es fast unmöglich, sich vorzustellen, welche Qualen die Tausenden von Gefangenen ertragen mussten, bevor sie auf der Cap Arcona oder im Meer um das Schiff herum starben.
 
Noch vor Kurzem hätte man hoffen können, dass sich solche Kriegstragödien nicht mehr wiederholen würden, zumindest nicht auf europäischem Boden. Doch leider ist es erneut geschehen. Obwohl man beim Vergleich verschiedener Kriegstragödien vorsichtig sein muss, haben mich die schrecklichen Folgen der Bombenangriffe auf Mariupol und andere Städte in der Ukraine wieder an all das erinnert, was mein Vater in seinen letzten Jahren erlebt hatte.
 
Wir dürfen niemals das menschliche Leid vergessen, das Kriege verursachen. Und wir dürfen auch nicht vergessen, wie wichtig es ist, trotz der großen Kosten Widerstand zu leisten. Es ist wichtig, die Erinnerung an diese Tragödien lebendig zu halten. Ich freue mich, das neue Cap Arcona Museum hier in Neustadt zu sehen und werde es bald mit meinen Kindern und Enkelkindern besuchen."


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