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Reporter Eutin

„Jetzt hab ich noch Urlaub“

Eutin (ed). Sechs runde Teigfladen besetzen zwei der Backöfen der Küche der ALMA 28 und verströmen einen feinen Duft nach Honig und Kuchen, drumherum eine Horde fröhlich fachsimpelnder Frauen – Chefin heute ist Katja. Sie floh vor neun Monaten mit ihren zwei Jahre kleinen Zwillingen vor Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine. Ihre Heimatstadt Mariupol war zu dieser Zeit das Hauptangriffsziel der Russen und lag komplett in Trümmern – auch das Haus von Katja und ihrer Familie, das ihr Mann selber gebaut hatte. Eine ihrer Tanten wohnt in Eutin, deshalb führte ihr erster Weg hierher. Und auf der Suche nach Möglichkeiten, das Deutsch, das sie sich mit YouTube-Kursen in kürzester Zeit angeeignet hatte, auch zu sprechen, kam sie ins Familienzentrum und landete hier beim Freitagstreffen, „Deutsch für jeden Tag“ ist der offizielle Name. Seit vier Jahren treffen sich hier Frauen mit Fluchterfahrung, aus Syrien, Iran, Irak, Aserbaidschan, Afghanistan, der Türkei, um Deutsch zu sprechen, ein bisschen mehr über Land und Leute zu erfahren, Fragen stellen zu können – unkomplizierten Kontakt zu Deutschen zu haben, der im Alltag mit Kindern und Familie, die die meisten haben, viel zu kurz kommt. Einige der Frauen sind erst ein Jahr hier, andere schon fünf, sind aber wegen der Kinder kaum aus dem Haus gekommen. Die Begegnung mit den beiden Koordinatorinnen des Familienzentrums Stefanie Dreller und Süntje Schwarten und der Kursleiterin Esther Dörrhöfer, das entspannte Quatschen und die Sicherheit, dass es ganz egal ist, wenn die Sätze vielleicht noch ein bisschen krumm sind, machen das Deutschsprechen etwas leichter. „Grammatikalisch sind die Mädels dank ihrer Sprachkurse sowieso deutlich fitter als ich“, sagt die Kursleiterin, „ich bin eigentlich nur zum Erklären da. Und zum Staunen, wie mutig und geduldig man in Deutschland sein muss, um diese Sprache und dieses Land zu lernen, hier einen kompletten Neuanfang zu machen.“ Wie schwierig die deutsche Sprache ist, habe sie erst an den Freitagen gelernt, sagt sie, wie viele „Teekesselchen“ und Stolpersteine es gibt, die man umschiffen, lernen, erklärt bekommen muss. Also wird deutsch gesprochen, egal wie, denn wenn man eine fremde Sprache nicht spricht, lernt man sie nicht. Auch wenn mal ein Wort neu ist, eine Redewendung noch unbekannt, wird versucht, ohne Übersetzung auszukommen – erklärt wird mit vollem Körpereinsatz, mit Mimik und Gestik, bis alle es verstanden haben. Nur als allerletzte Möglichkeit kommt die ÜbersetzungsApp auf dem Smartphone zum Einsatz. Und immer wieder stoßen die Frauen auf Worte, die sich in den verschiedenen Sprachen ähneln oder irgendwie hergeleitet werden können – Worte tauschen, Verständnis für die Sprache der anderen entwickeln, zusammen lachen und Gemeinsamkeiten finden. Das klappt oft, aber am besten mit Essen. Essen verbindet, das Essen an sich, aber auch das Zubereiten und das Drübersprechen – und weil das gemeinsam noch viel mehr Spaß macht, sagt immer mal wieder eine der Frauen: „Nächsten Freitag frühstücken wir.“ Und dann bringt jede etwas mit. Oder es wird zusammen gekocht oder gebacken, weil sich ein Rezept so lecker angehört hat, dass es einfach mal gemacht werden muss. Wie der Russische Honigkuchen, von dem Katja erzählt – „russisch?“ staunen die anderen und Katja erzählt, dass in Mariupol genauso viele Russen wie Ukrainer gewohnt und alle russisch und ukrainisch gesprochen haben. Zuerst haben die anderen Frauen die junge Frau aus der Ukraine etwas skeptisch beäugt, dann aber hat Katja Fotos von ihrem Haus gezeigt, vor und nach dem Angriff auf Mariupol. Und Dima, Razan und Perwin aus Syrien haben gestaunt und gesagt: „Das ist ja wie bei uns!“ Gegenseitiges Verständnis und Neugier auf das Leben der anderen wird so zur Selbstverständlichkeit – und der russische Honigkuchen muss gebacken werden, beschließen die Frauen. Flugs wird verteilt, wer was mitbringt. Und am Freitag drauf sind alle pünktlich zur Stelle. Katja erklärt, wie der Teig über dem Wasserbad aufgeschlagen und mit Natron versetzt wird, in sechs Fladen gebacken und rund ausgeschnitten wird. Die deutschen Worte für Mehl, Milch, Honig, Schüssel, Backofen, Nudelholz, Füllung, Teig oder Arbeitsplatte fliegen durch die Küche, so lernt es sich am einfachsten, Be-Greifen eben. Die Teigkreise werden mit einer Füllung aus Creme Fraiche und Vanillezucker zusammengesetzt, als Deko kommen die geschredderten Teigränder drauf. „Genau zwölf Stücke“, jubeln die zwölf Damen – gerecht geteilt wird der Kuchen in nur durch Lobeshymnen durchbrochenen zufriedenem Schweigen verspeist. „Kannst Du mir das Rezept aufschreiben“, bittet Zakia – „mir auch“, sagen Dima, Razan, Amene und Perwin und die anderen. Und Katja strahlt.
„Was kocht Ihr heute?“ ist eine Frage, die meist zum Ende hin die Runde macht – Erbsensuppe kommt bei Katja auf den Tisch, die essen ihre Kinder am liebsten. Razan macht Pizza für ihre Jungs, Dima Reis mit Fleisch für ihre. Bei Esther gibts Lachsnudeln mit Feldsalat, bei Perwin Kibbe (unglaublich leckere kleine Bulgurkroketten mit Fleischfüllung). Als die Reihe an Amene ist, lacht sie nur und sagt: „Da denke ich später dran, jetzt habe ich noch Urlaub.“ Denn Urlaub vom Alltag, das sind die zwei Stunden immer freitags im Familienzentrum für die meisten – Zeit ganz für sich alleine, Zeit zum Schnacken mit anderen Frauen – „in unserer Heimat machen wir das zwei- dreimal die Woche“, erklärt Dima, „treffen uns mit den Nachbarinnen und Freundinnen, das fehlt hier sehr.“ Deswegen genießen sie den Freitag so, sagen die Frauen, weil sie unter sich sind, keine Verpflichtungen haben, einfach quatschen und lachen können. Und deswegen wird auch mal zwischendrin arabisch gesprochen, aber dann ermahnen Katja oder Amene sie schmunzelnd und sagen „Deutsch bitte!“.
Die Freitagsgruppe, wie sie im Familienzentrum heißt, ist eine so eingeschworene wie offene Bande – wer herkommt, wird ausgefragt und aufgenommen, weil, und das wissen sie alle, der Anfang in Deutschland nicht ganz leicht ist. Jede einzelne dieser Frauen ist eine echte Bereicherung – klug, herzlich und aufgeschlossen sind die Mädels, wie sie da sitzen. Jede hat einen Neuanfang hinter sich und den Mut, sich ein ganz neues Leben in einem fremden Land aufzubauen.


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