

Plön (los). Was verbindet das Welkriegsende vor 80 Jahren mit gesellschaftlichem Wertekanon, dem neugewählten Papst und dem Weckruf nach mehr Wachsamkeit gegenüber antidemokratischen Kräften? In der Talk-Veranstaltung Church goes Pub der Pfarrei St. Vicelin am 8. Mai in der „Alten Schwimmhalle“ in Plön entlockte Pastoralreferent Michael Veldboer seinem Promi-Gast Björn Engholm, Schleswig-Holsteins früherem Ministerpräsidenten, reflektierte Antworten zu den komplexen Themen – und manch humorvolle Pointe. Kirche könnte, so ein zentraler Gedanke des denkwürdigen Abends, an fundamentaler Bedeutung gewinnen, je problematischer die Zeiten werden. Schwere Kost, die Veldboer und Engholm mit einem Schuss Leichtigkeit im Stegreif auszugleichen verstanden.
Seit Mai 2023 gibt es das unkonventionelle Format Church goes Pub. Jenseits katholischer Liturgie, abgekühlter Kirchenbänke und aufgegebener Gotteshäuser hat die Pfarrei Vicelin es mit Unterstützung des Erzbistums aus der Taufe gehoben. Statt Messwein und Oblaten zum Abendmahl genießen die Besucher eine Art kirchlich geprägter Klönrunde mit abendlichen Kneipencharme und anspruchsvollem Themenkanon. Der Begriff Zeitenwende, die Barschelaffäre, die Wahl des Papstes Leo IV. und des Bundeskanzlers Friedrich Merz zählen dazu. Insbesondere dem Kriegsende am 8. Mai 1945 gibt Veldboer an dem Abend viel Raum.
Mit den Veranstaltern und dem musikalisch umrahmenden Trio Shenoll Tokaj teilten sich 100 Besucher den gemütlich-begrenzen Platz im stimmungsvollen Abendlicht. In dieser gemütichen „Gemengelage“ stimmen kontemplative wie auch rhythmisch-bluesige Musikstücke auf das Potpourri bewegender Themen ein.
Der große Zuspruch zeigt: die ungewohnten Pfade werden angenommen. Aktuelle Blickpunkte am Puls der Zeit tragen dazu bei. Menschen zusammenzuführen ist das Ziel der Kirche, machte Michael Veldboer deutlich. Aber auch der notwendige Blick auf die Erinnerungskultur ist darin verankert. Allem voran der 8. Mai, das Datum, an dem vor 80 Jahren der Zweite Weltkrieg zu Ende ging. Dank der Alliierten konnte der Aggressor Deutschland in die Knie gezwungen werden, der Europa mit unbeschreiblichem Leid überzog. Dank der Alliierten konnte am 23. Mai 1949 das explizit durchdachte Grundgesetz einer freiheitlich-demokratischen Bundesrepublik verkündet werden. Am 24. Mai trat es in Kraft; eine Sternstunde der Menschheit im Nachklapp der Kriegsjahre. Aber hatten die Deutschen das Kriegsende wirklich als Befreiung erlebt? Oder waren es vielmehr ihre Opfer?
Björn Engholm, geboren am 9. November 1939, war zum Kriegsende erst fünf Jahre alt und sagt rückblickend: „Trotz der widerwärtigen Zeiten hatte ich eine glückliche Kindheit.“ Ein Grund dafür: Der Vater, der im Ersten Weltkrieg gedient hatte, sei so voll mit Schrapnellen zurückgekehrt, die man in der ärztlichen Versorgung zu damaliger Zeit nicht alle hatte entfernen können, dass der Mann im Zweite Weltkrieg als „nicht wehrtüchtig“ eingestuft zuhause blieb – zum Glück für die Familie. Er habe beim Marmeladen-Hersteller Schwartau-Werke gearbeitet, was in Zeiten des Mangels aus Kindersicht wohl vorteilhaft war: „Ich muss gestehen, es war keine schlechte Zeit“. Dennoch brannten sich auch die schrecklichen Erinnerungen an das brennende Lübeck ein. „Es qualmte über Tage“, sagt Engholm. Davon tief beeinflusst erwuchs daraus die Überzeugung, dass Krieg unbedingt zu verhindern sei. Und das, obwohl der Nationalsozialismus infolge einer mehr schlecht als recht gelungenen Entnazifizierung in den Nachkriegsjahren in Engholms Schulzeit kein Thema war. Gerade bis zum Deutschen Kaiserreich sei der Geschichtsunterricht vorgedrungen, berichtet Engholm, „kein Wort über die Nazis!“.
Wegen seiner gefälschten Vergangenheit habe der Mann, der ihn in dem Fach unterrichtete, in der Bundesrepublik als Oberstudienrat in Amt und Würden leben und lehren können. Tatsächlich sei jener Lehrer jedoch beim SD, dem „Sicherheitsdienst des Reichsführer SS“, in Dänemark tätig gewesen, als die Deutschen das Nachbarland besetzt hatten. Das brachte ihn nach Kriegsende auch zunächst vor Gericht, erzählt Engholm. Doch habe er nur vorübergehend eingesessen. „Adenauer hat ihn aus dem dänischen Knast rausgeholt.“ Denn in der Bundesrepublik waren Stellen zu besetzen – vielfach mit Personen, die zu den NS-Täterkreisen zählten.
Was braucht es also, dem „Tag der Befreiung“ wieder mehr Kontur zu geben?, fragt Pastoralreferent Veldboer seinen Gast. Engholm verweist auf Filmmaterial, das zeige, „was Menschen mit Menschen machen“. Diese Bilder der Erinnerung seien insbesondere auch wichtig, um zu sehen „was auf uns noch zukommen kann“, das Bewusstsein gelte es zu schärfen. Wie konnte es sein, führt er aus, dass Menschen, die in der Kirche waren und die Goldene Regel in Matthäus 7/12 kannten, „zigmillionenfach davon abfallen“. Denn erst die Spaltung der Gesellschaft ermöglichte den Siegeszug der Hitler-Anhänger. Sie nutzten das Instrument der Abspaltung in einem zunehmend vergiftetem gesellschaftlichen Klima. Toxische Tendenzen sind aber auch ein aktuelles Thema...
Der eingeschlagene Weg ließ das anvisierte Ziel der Unterdrückung und Vernichtung der nach NS Ideologie definierten Menschengruppen erkennen, allen voran Juden, aber auch politische Gegner. Der Vorwurf an die Kirchen: Sie dienten sich dem Machtapparat an, unterstützten die Person Adolf Hitler gar als Heilsbringer. An vier Lübecker Geistliche als Opfer des Nationalsozialismus erinnert Engholm: Pastor Karl Friedrich Stellbrink sowie die Pfarrer Eduard Müller, Johannes Prassek und Hermann Lange. Sie wurden Kritiker des rechtsextremen Regimes, das Rechtsstaatlichkeit und Gewaltenteilung längst an den Nagel gehängt hatte.
Denunziation nützte als probates Mittel, um Kritiker auszuschalten zu können. Dieser Logik folgend endeten die Leben der vier Lübecker Kirchenmänner 1943 unter dem Fallbeil als von Hitlers Schergen vielgenutztem Mordwerkzeug.
Das Prekäre am Umgang mit diesen Vorgängen auch kirchlicherseits wird in der Nachriegszeit deutlich, in der reinen Tisch zu machen eigentlich allumfassende Konsequenz hätte sein müssen. Hätte. Aber die evangelische Kirche habe sich erst 1950 zu einer Teilschuld bekannt, sagt Michael Veldboer, und die katholische ließ sich bis 2020 dafür Zeit. „Brauchen wir Menschen, die zugeben, wenn sie Bockmist gebaut haben?“ Engholm hat dazu eine klare Haltung: „Die Kirchen, die wider den Geist ihrer eigenen Überzeugung gehandelt haben, hätten sich nach dem Krieg entschuldigen müssen“, sagt er dezidiert.
Dennoch: Die Kirchen seien gerade jetzt die „wichtigsten Wertegemeinschaften“, unterstreicht Engholm. Ihre bedeutende Botschaft: Menschlichkeit, Friedfertigkeit, Gerechtigkeit. Und: „Wo Völker dagegen verstoßen, müssen die Kirchen auf die Barrikaden gehen.“ Weshalb Julia Klöckner mit ihrer kürzlich getätigten Aussage daneben gegriffen habe: Die Bundestagspräsidentin fand, die Kirchen hätten sich politisch nicht einzumischen. „Ich hoffe, sie hat sich erinnert, dass das Evangelium durchaus politisch ist“, schließt Veldboer den Punkt. Klöckner hat Theologie studiert...
Ob er zu Gott bete, möchte er von seinem Gast wissen. Engholm denkt da eher an ein tägliches Stoßgebet in diesen Zeiten. „Das ändert aber nicht, dass ich meinen Glauben habe“, fügt er hinzu.