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Marlies Henke

Interview zum Aufnahmestopp bei der Tafel Neustadt

Der 1. Vorsitzende der Tafel Neustadt Olf Leder. Er engagiert sich auch im Vorstand des Landesverbands und ist dort für die Logistik des Tafeln in Schleswig-Holstein und Hamburg zuständig.

Der 1. Vorsitzende der Tafel Neustadt Olf Leder. Er engagiert sich auch im Vorstand des Landesverbands und ist dort für die Logistik des Tafeln in Schleswig-Holstein und Hamburg zuständig.

Bild: Marlies Henke

Neustadt in Holstein. Mehr Nachfrage, weniger Lebensmittel, steigende Kosten und nicht zuletzt überlastete Ehrenamtler führen dazu, dass derzeit bundesweit viele Lebensmittel-Tafeln an ihre Grenzen stoßen. Auch die Tafel Neustadt ist betroffen und hat Konsequenzen gezogen: Sie nimmt vorerst keine neuen Kundinnen und Kunden auf. der reporter sprach darüber mit dem 1. Vorsitzenden Olf Leder.

 

Bei der Tafel Neustadt herrscht seit letzter Woche Aufnahmestopp. Warum?

Olf Leder: Wir haben mit den Geflüchteten aus der Ukraine teilweise 100 Prozent mehr Kunden. Das ist personell nicht zu schaffen. Die hohe Kundenzahl führt dazu, dass die Mitarbeiter wesentlich länger arbeiten müssen, um die Ware zu sortieren. Auch die Ausgabezeiten verlängern sich dadurch. Genauso ist es bei den Fahrern: Der zeitliche Aufwand ist auch hier erheblich angestiegen.

Mit der Entscheidung, hier vorerst keine weiteren Neukunden aufzunehmen, haben wir uns sehr, sehr schwer getan. Aber diesen Ansturm können wir nicht mehr bewältigen. Sobald sich die Situation entspannt hat, werden sich Bedürftige auch wieder anmelden können.

 

Sie brauchen also mehr Ehrenamtliche?

Olf Leder: Natürlich freuen wir uns über mehr Ehrenamtler. Das führt ja auch dazu, dass man den einen oder anderen ein bisschen zurücknehmen könnte, damit er mal zur Ruhe kommt. Aber letztlich ist das personelle Problem nicht das einzige. Durch die Auswirkungen des Krieges in der Ukraine stehen nicht mehr ausreichend Waren zur Verfügung. Zum einen hat sich das Einkaufsverhalten der Supermärkte verändert, nachdem die Preise auch im Einkauf gestiegen sind. Dazu kommt, dass viele Produkte wie Mehl, Milch, Öl oder Nudeln nicht in großen Mengen verfügbar sind. Von den Supermärkten fällt also weniger ab. Zum anderen haben wir erheblich weniger Großspenden in unseren beiden Großlagern, denn viele Konzerne und Hersteller, die sonst Ware zur Verfügung stellten, haben in den vergangenen Monaten stattdessen für hohe Summen Lebensmittel in die Ukraine gebracht. Das ist ja auch ganz, ganz wichtig!

 

Also mehr private Spenden?

Olf Leder: Es würde uns zurzeit wenig bringen, wenn mehr Lebensmittelspenden kämen. Es weiß ja jeder, der gerade einkaufen geht, dass es recht überschaubar ist, was noch in den Regalen steht. Und man kann nicht erwarten, dass jemand die teuren Nudeln für drei Euro kauft, um sie dann der Tafel zu spenden. So locker sitzt das Geld doch auch nicht. Das ist momentan eine Entwicklung, in der jeder ein bisschen vorsichtiger agieren muss.

 

Und wie sollen jetzt die Menschen bei der Tafel versorgt werden?

Olf Leder: Wir versorgen keine Menschen! Darauf legen wir ganz viel Wert! Unser Vereinszweck ist es, überschüssige Lebensmittel vor der Vernichtung zu bewahren und sie an bedürftige Menschen abzugeben. Deswegen sind wir gemeinnützig.

 

Was muss also verbessert werden?

Olf Leder: Wir versuchen über die Landesregierung finanzielle Unterstützung zu erreichen. Momentan gibt es nichts. Das Land will zwar über einen Hilfsfonds 30.000 Euro zur Verfügung stellen, allerdings soll das für alle Tafeln reichen. Bei 63 Einrichtungen im Land kommt etwas um 470 Euro pro Tafel dabei heraus. Damit können wir noch nicht einmal die Energiekostensteigung auffangen.

Die Landesregierung muss unsere Arbeit mehr im Fokus haben. Es wird als selbstverständlich angesehen, dass sich die Ehrenamtler um alles kümmern. Dabei ist es doch die originäre Aufgabe des Staates, dass man Menschen nicht in einer Situation belässt, in der sie Not leiden müssen.

 

Wer weist Ihnen denn überhaupt die Bedürftigen zu?

Olf Leder: Kommunen und ganz viele Einrichtungen schicken die Menschen zu uns, aber auch viele private Personen geben bedürftigen Menschen den Tipp, hierher zu kommen.

 

Erzählen Sie doch bitte noch kurz etwas zur Mitarbeiterstärke und zum Arbeitsablauf.

Olf Leder: Wir haben zurzeit 30 ehrenamtliche und beschäftigte Mitarbeiter vor Ort. Unsere Fahrer sind täglich ab acht Uhr mit drei Kühlfahrzeugen unterwegs, um Lebensmittel von Supermärkten zwischen Grube und Travemünde einzusammeln. Dazu kommen Sondertouren nach Borgstedt und Neumünster, wo der Landesverband Großlager angemietet hat. Hier in Neustadt werden die Lebensmittel dann sortiert und aufbereitet. Die Arbeitszeit ist normalerweise von 8 bis 14 Uhr. Mittwoch und Freitag sind Ausgabetage in Neustadt, da geht es von 8 bis 17 oder sogar 18 Uhr. Weitere Ausgabestellen sind in Grömitz, Schönwalde und Timmendorfer Strand. Dort arbeiten zusätzliche ehrenamtliche Helfer.

 

Viele Tafeln sind nach Corona und der jetzigen Situation am Limit. Hat das Prinzip Tafel überhaupt noch Zukunft?

Olf Leder: So, wie das Prinzip Tafel eigentlich angedacht war, gibt es das heute gar nicht mehr. Wir wurden in eine Rolle hineingedrängt, die wir so eigentlich gar nicht übernehmen wollten. Darum müssen wir umdenken. Zum Beispiel haben wir zurzeit Tafeln in vielen kleinen Orten - das ist nicht mehr zeitgemäß. Sinnvoller wäre es, in größeren Orten eine Tafel vorzuhalten, die das Geschäftliche übernimmt und die dann die Ausgabestellen in kleineren Orte bedient. Man bräuchte weniger Personal, weniger Technik, weniger Fahrzeuge und hätte weniger Kosten, auch was die Räumlichkeiten angeht.

 

Könnte Neustadt so ein zentraler Standort sein?

Olf Leder: Im Grunde ist Neustadt das schon, wir decken ja die gesamte Ostseeküste ab. Aber kleine Tafeln in größere einzubinden, ist grundsätzlich schwierig. Fast alle Tafeln sind eingetragene Vereine oder aber in unterschiedlicher Trägerschaft.

 

Wie sind die Tafeln überhaupt in die Situation „geraten“, dass sie mehr Aufgaben übernehmen, als eigentlich angedacht?

Olf Leder: Es wurde im Laufe der Jahre einfach immer mehr. Alle sind hoch motiviert, für die bedürftigen Menschen da zu sein. Auch hier haben wir einige sehr engagierte Helfer. Man könnte es als Helfersyndrom bezeichnen, aber das ist es nicht. Wenn es einem selbst nicht schlecht geht, dann möchte man andere doch teilhaben lassen. Das ist bei allen hier so. Man hat eine Verantwortung für Mitmenschen, denen es nicht so gut geht und muss versuchen, das abzumildern. (he)


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