

von Johanna Lohse, 13 Jahre
Mia und Laura putzten gerade ihre Pferde Max und Lukas. Nachdem die Kletten
und die getrockneten Matschklumpen aus dem langen Winterfell der beiden Füchse
entfernt waren, holte Laura das Kutschgeschirr. Das Leder war steif und eiskalt,
genau wie die Luft an diesem Weihnachtsmorgen. Bei dem spärlichen Licht in der
kleinen Scheune war es gar nicht so leicht die Geschirre anzulegen, doch die
beiden Schwestern kannten jeden Handgriff in- und auswendig. Nun wurden die
schweren Kaltblüter vor den Schlitten gespannt. Die Pferde kannten Schlitten und
Kutsche gut, weshalb es kein Problem war die Beiden anzuspannen. Nachdem sie die
Pferde hinausgeführt hatten, verstauten sie eine große Keksbox unter dem
Kutschbock. Die Kekse hatten sie heute Morgen gebacken. Das war lustig gewesen,
denn ein Blech ist sogar verbrannt. Aber sie hatten trotzdem genug Kekse.
Die beiden Mädchen stiegen auf und Mia übernahm zuerst die Zügel. Sie
brauchten keine Peitsche, denn die beiden arbeitsfreudigen Pferde liefen gerne
durch den hohen Schnee. Nachdem sie das Dorf verlassen hatten, fielen die Pferde
wie von selbst in einen ruhigen Trab. Mia und Laura spürten wie es den Beiden
Spaß brachte. Die Kinder redeten nicht viel. Beide waren in Gedanken versunken
und betrachteten staunend die mit Schnee bedeckten Tannen und Kiefern, die
weißen Felder davor, über welche sie bald fahren würden. Dazu das Knirschen von
Schnee unter dem Schlitten und der gefrierende Atem der beiden Pferde vor ihnen.
Nun übernahm Laure die Zügel, denn als Ältere der Beiden kannte sie sich hier
besser aus.
Bald erreichten sie den Wald und Laura musste die Pferde sogar bremsen, damit
sie nicht angaloppierten. Nach einiger Zeit scheuchten sie eine Herde Rehe auf.
Darunter war auch ein Tier mit strahlend weißem Fell, welches sie lange ansah.
Auch die Mädchen konnten ihre Blicke nicht von den unbeschreiblich braunen Augen
abwenden. Plötzlich schnaubte Max laut, worauf die Kinder ihre Blicke losrissen.
Als sie erneut zu dem Reh schauten, war es weg. Aber keiner hatte das Knacken
von Zweigen oder das Knirschen von Schnee gehört. Seltsam.
Nach einigen Minuten sahen sie vor sich einen gelblichen Lichtschein durch
den schneebedeckten Zweige einer Kiefer schimmern. Auch die Pferde spitzten die
Ohren, denn sie kannten das Haus gut und freuten sich auf den warmen Stall und
das frische Heu. Während Laure schnell die Kaltblüter von ihren Gebissen
befreite und in den kleinen Stall führte, ging Mia an die Tür und klopfte. Die
Großmutter hatte die Kinder bereits erwartet und freute sich riesig ihre beiden
Enkeltöchter zu sehen. Auch Laure kam nun mit der Keksdose unter dem Arm und
ließ sich knuddeln. Drinnen in der warmen Stube roch es intensiv nach Kaffee.
Bei Oma durften die Kinder Kaffee trinken, aber zu Hause nicht.
Mit einer dampfenden Tasse Kaffe vor der Nase und einem Keks in der Hand
erzählten die Kinder abwechselnd von ihrer seltsamen Begegnung mit dem Reh. Die
Oma hörte schweigend zu, nippte ab und an an ihrem Kaffee und aß einige Kekse.
Als die Mädchen geendet hatten, musste die Oma schmunzeln und erzählte ihnen
eine uralte Legende von einem mysteriösen Unfall.
„Vor langer Zeit, als wir noch Könige und Kaiser hatten, lebte der König
Willhelm Maximilian II mit seiner Frau - der Königin Maria-Anna vom Schwanenhof
- glücklich mit seinen beiden hübschen Töchtern im Jagdschloss, nicht weit von
hier. Die beiden Prinzessinnen hießen Iris und Magaritte, denn der König und die
Königin liebten die gleichnamigen, weißen Blumen. Außerdem hatten die Mädchen,
es waren Zwillinge, beide schneeweißes Haar, auch ihre Haut war weiß und sie
trugen nur weiße Kleider. Alles an ihnen war weiß, nicht blass, sondern
strahlend weiß! Alles, außer ihre Augen. Beide Mädchen hatten rehbraune Augen,
so braun wie das Kitzfell, welches auf den teuren Ledersesseln des Schlosses
lag.
Die Zwillinge machten immer alles zusammen und waren unzertrennlich. Sie
dachten auch das Gleiche. Und beide liebten sie die Wildtiere, meisten die
Rehe.“
Nun war es an Laure und Mia Kaffee zu trinken, Kekse zu mampfen und
zuzuhören.
„Als die Prinzessinnen 15 Jahre alt waren, durften sie zum ersten Mal allein
zu einem Weihnachtsball fahren. Sie freuten sich natürlich riesig und tanzten
die ganze Nacht. Als der Morgen dämmerte wurden die beiden Schimmel das Königs
wieder angespannt und Iris und Magaritte setzten sich in den Schlitten. Sie
hielten die Zügel natürlich gemeinsam und lenkten die temperamentvollen
Vollblüter bald in den Wald.
Im Wald war es noch etwas duster, denn die Sonne war noch nicht über den
Horizont gestiegen. Plötzlich schallte ein Schuss durch den Wald und die Mädchen
sahen nur wenige Meter vor sich ein Reh zu Boden gehen. Die vom Schuss nervösen
Pferde ließen sich nur mit Mühe zügeln. doch als die Tiere einen Moment stoppten
sprangen die Prinzessinnen von dem Schlitten und rannten zu dem Reh. Von der
plötzlichen Bewegung erneut erschreckt stürmten die Pferde im vollen Galopp
davon. Die Mädchen aber setzten sich zu dem Reh.
Es war nur ein Streifschuss gewesen, aber trotzdem lief viel Blut aus der
Wunde, zu viel Blut. Die Mädchen erkannten schnell, dass es sich um eine Ricke
handelte, welche kurz vor der Geburt ihres Kitzes war. Sie sprachen nie
miteinander, denn jede wusste, was der andere sagen würde. So war es auch jetzt.
Während die eine das Blut mit der weißen Seide ihres Ballkleides abtupfte,
streichelte die andere die Ricke und redete beruhigend mit ihr. Der Blutgeruch
war überwältigend und die Blutung ließ sich einfach nicht stoppen.
Plötzlich erzitterte das Reh am ganzen Leib und presste heftig. Das wilde
Brüllen des Bären hinter sich nahmen die Prinzessinnen gar nicht wahr, denn da
kam schon das Kitz. Und im gleichen Moment stürzte sich der Bär auf die Mädchen
und tötete sie beide gleichzeitig. Auch die Ricke war tot, denn die Geburt war
zu anstrengend für sie gewesen. Nur das Kitz überlebte an diesem schrecklichen
Morgen. Und es war:
Weiß. Es hatte strahlend weißes Fell und kitzbraune Augen, genau sie die
beiden Mädchen. Die Leichen der Prinzessinnen fand man neben der der Ricke, aber
die Seelen fand man nie, denn die streifen gemeinsam frei durch die Wälder.
Gemeinsam mit dem Kitz, welches sie von dem schrecklichen Bären retteten.“
Der Kaffee und die Kekse waren alle, als Mia und Laure bei ihrer Großmutter
aufbrachen. Draußen war es schon dunkel und noch kälter als gegen Mittag.
Eigentlich sollten sie im Hellen zurück sein, aber sie hatten noch lange
geschwiegen, nachdem die Oma geendet hatte. Die Pferde im Stall dösten schon,
doch die klirrende Kälte weckte ihre warmen Muskeln schnell auf. Der Schlitten
war nur spärlich mit einem kleinen Sturmlicht beleuchtet, weswegen man den Weg
nur erahnen konnte. Die Mädchen hatten Schwierigkeiten den Weg zu erkennen. Doch
plötzlich zogen die Pferde entschlossen an und da bemerkten auch die Kinder das
leuchtend weiße Fell vor sich. Die braunen Augen des Rehs leuchteten warm zu
ihnen rüber.
Da lief das Reh los und ohne zu zögern folgten Max und Lukas dem weißen
Tier.