Petra Remshardt

„Senf oder Mostrich oder das Christkind war da“ von Gudrun Weidemann

von Gudrun Weidemann


Endlich. Ingrid und Helga können es kaum noch erwarten. Der längste Tag des Jahres geht nun seinem Höhepunkt entgegen. Am Morgen schon haben sie beide den Tannenbaum mit Lametta behängt. Faden für Faden für Faden, so wie es ihr Vater liebt. Dann dürfen sie auch noch die kleinen silbernen Vögelchen mit den seidigen Schwänzen drauf verteilen. Die Kugeln hängt der Vater immer selber in den Baum. „Die sind aus Lauscha“, sagt er mit glänzenden Augen und samtweicher Stimme. „Sie sind ganz leicht, und daher sehr zerbrechlich.“ Mit viel Sorgfalt verteilt er sie an dem Baum. Auch das Anbringen der Kerzen beansprucht er für sich. „Die müssen so verteilt werden, dass sie den Glanz der Kugeln verstärken“, sagt er jedes Jahr wieder und damit werden die Mädchen aus dem guten Zimmer verbannt.
Die Mutter schickte die Kinder mit einem wichtigen Auftrag noch einmal fort: „Ihr müsst schnell noch zum Kaufmann gehen, mir fehlt ein Glas Senf für die Würstchen.“
„Früher ist Mutti immer mit uns das Christkind suchen gegangen, weißt du noch?“ kichert Ingrid. „Nur gefunden haben wir es nie. Wenn wir dann nach Hause gekommen sind, hat Vati immer gesagt. Gerade ist es weggeflogen, aus dem Fenster. Aber nun bin ich ja schon acht und weiß, dass es keinen Weihnachtsmann gibt.“ Nach einer Weile fragte sie ihre große Schwester:
„Sag mal, Helga, sind eigentlich Christkind und Weihnachtsmann dasselbe?“
„Geht doch nicht.“ meint diese. „Das Christkind ist doch klein und der Weihnachtsmann ist groß. Aber wo Vati herkommt, wird Christkind gesagt. Vielleicht waren da nicht so viele Kinder, und die wenigen Geschenke konnte jemand verteilen, der klein ist. Außerdem hat Vati gesagt, bei ihm zu Hause gab es für jedes Kind nur ein einziges Geschenk. Und hier sind doch so viele Kinder, und alle kriegen mehr als ein Geschenk, da muss es schon ein starker, großer Weihnachtsmann sein.“
„Aber es gibt doch gar keinen Weihnachtsmann“, bohrt Ingrid jetzt nach. “Und vielleicht auch kein Christkind? Warum erzählen sie uns das immer wieder?“
„Weiß ich doch auch nicht, warum die Erwachsenen so was tun. Die tun so vieles, was wir nicht verstehen. Jetzt gehen wir erst mal in den Laden.“ Helga begann in der Manteltasche zu kramen. „Ach, hier ist das Geld.“
„Siehst du, das verstehe ich auch schon wieder nicht“, sagt Ingrid. „Gestern Abend hatten wir noch Mostrich auf dem Tisch. Und heute ist keiner mehr da.“
„Das ist es ja gerade. Wir sollten einfach nur weggehen, damit Mutti und Vati jetzt die Geschenke unter den Tannenbaum legen können. Und sag bloß da drinnen in dem Geschäft nicht Mostrich. Dann wissen die doch gleich, dass wir Flüchtlinge sind. Hier sagt man nämlich Senf.“
„Ach ja, wir sind ja Flüchtlinge. Ist das eigentlich schlimm? Maria und Josef waren doch auch Flüchtlinge, und die waren heilig. Das wurde im Radio vorgelesen. Sind wir dann auch heilig?“
Die beiden Mädchen betreten den Laden. Es ist eine lange Warteschlange, und es geht nur langsam voran. Als sie endlich dran sind, bestellt Helga: „Ein Glas Senf bitte.“
Ingrid drängelt sich an ihrer Schwester vorbei. „Zu Hause sagen wir aber Mostrich dazu.“ Ein leises Gelächter um die beiden herum, und die Verkäuferin lehnt sich ein wenig nach vorne, um das kleine Mädchen anzusehen. „Wo ich zu Hause bin, sagt man auch Mostrich.“
„Ja? Sind Sie dann da zu Hause, wo unser Vati auch zu Hause ist?“ fragt die Kleine erstaunt. „Das hab ich ja noch nie gewusst. Ich frag Vati, wo er zu Hause ist.“
Auf dem Heimweg hatten die beiden Mädchen erst einmal ein wenig zum Nachdenken. Dann begann Ingrid: „Weißt du, wo Vati zu Hause ist?“
„Ich glaub schon.“ Kam es langsam von der großen Schwester. „Das ist dort, wohin Mutti immer die Pakete schickt. Das sind nämlich die Eltern von Mutti und Vati.“
„Und warum sind die nicht hier?“
„Na, weil wir doch geflüchtet sind.“
„Und warum sind die nicht mit geflüchtet?“
„Weiß nicht. Vielleicht konnten die nicht mehr so weit laufen. Die sind doch schon alt. Aber nun komm.“
Es gab zum frühen Abendbrot wie jedes Jahr Kartoffelsalat und Würstchen. „Das ist ja der Mostrich von gestern, nicht der Senf, den wir heute gekauft haben“, stellt Ingrid fest.
„Ach ja, und Vati, ich wollte dich noch fragen, wo du zu Hause bist. Die Verkäuferin im Laden sagt nämlich auch Mostrich, so wie du.“
Dann wird der Tisch abgeräumt. Die Mutter bindet sich noch einmal die Schürze vor. „Ihr könnt mir beide helfen, dann sind wir schneller fertig, „Und danach ziehen wir uns alle fein an für das Christkind.“
Die beiden Mädchen sind schon eine Weile fein angezogen, haben sich auch ihre gehäkeltes Täschchen für das Taschentuch umgehängt. Sie warten. Als das Glöckchen läutet, geht endlich die Tür auf zum Weihnachtszimmer. „Eben war das Christkind da.“


Weitere Nachrichten aus Neustadt in Holstein

UNTERNEHMEN DER REGION

Meistgelesen