

von Gudrun Weidemann
Endlich. Ingrid und Helga können es kaum noch erwarten. Der längste Tag des
Jahres geht nun seinem Höhepunkt entgegen. Am Morgen schon haben sie beide den
Tannenbaum mit Lametta behängt. Faden für Faden für Faden, so wie es ihr Vater
liebt. Dann dürfen sie auch noch die kleinen silbernen Vögelchen mit den
seidigen Schwänzen drauf verteilen. Die Kugeln hängt der Vater immer selber in
den Baum. „Die sind aus Lauscha“, sagt er mit glänzenden Augen und samtweicher
Stimme. „Sie sind ganz leicht, und daher sehr zerbrechlich.“ Mit viel Sorgfalt
verteilt er sie an dem Baum. Auch das Anbringen der Kerzen beansprucht er für
sich. „Die müssen so verteilt werden, dass sie den Glanz der Kugeln verstärken“,
sagt er jedes Jahr wieder und damit werden die Mädchen aus dem guten Zimmer
verbannt.
Die Mutter schickte die Kinder mit einem wichtigen Auftrag noch einmal fort:
„Ihr müsst schnell noch zum Kaufmann gehen, mir fehlt ein Glas Senf für die
Würstchen.“
„Früher ist Mutti immer mit uns das Christkind suchen gegangen, weißt du
noch?“ kichert Ingrid. „Nur gefunden haben wir es nie. Wenn wir dann nach Hause
gekommen sind, hat Vati immer gesagt. Gerade ist es weggeflogen, aus dem
Fenster. Aber nun bin ich ja schon acht und weiß, dass es keinen Weihnachtsmann
gibt.“ Nach einer Weile fragte sie ihre große Schwester:
„Sag mal, Helga, sind eigentlich Christkind und Weihnachtsmann dasselbe?“
„Geht doch nicht.“ meint diese. „Das Christkind ist doch klein und der
Weihnachtsmann ist groß. Aber wo Vati herkommt, wird Christkind gesagt.
Vielleicht waren da nicht so viele Kinder, und die wenigen Geschenke konnte
jemand verteilen, der klein ist. Außerdem hat Vati gesagt, bei ihm zu Hause gab
es für jedes Kind nur ein einziges Geschenk. Und hier sind doch so viele Kinder,
und alle kriegen mehr als ein Geschenk, da muss es schon ein starker, großer
Weihnachtsmann sein.“
„Aber es gibt doch gar keinen Weihnachtsmann“, bohrt Ingrid jetzt nach. “Und
vielleicht auch kein Christkind? Warum erzählen sie uns das immer wieder?“
„Weiß ich doch auch nicht, warum die Erwachsenen so was tun. Die tun so
vieles, was wir nicht verstehen. Jetzt gehen wir erst mal in den Laden.“ Helga
begann in der Manteltasche zu kramen. „Ach, hier ist das Geld.“
„Siehst du, das verstehe ich auch schon wieder nicht“, sagt Ingrid. „Gestern
Abend hatten wir noch Mostrich auf dem Tisch. Und heute ist keiner mehr da.“
„Das ist es ja gerade. Wir sollten einfach nur weggehen, damit Mutti und Vati
jetzt die Geschenke unter den Tannenbaum legen können. Und sag bloß da drinnen
in dem Geschäft nicht Mostrich. Dann wissen die doch gleich, dass wir
Flüchtlinge sind. Hier sagt man nämlich Senf.“
„Ach ja, wir sind ja Flüchtlinge. Ist das eigentlich schlimm? Maria und Josef
waren doch auch Flüchtlinge, und die waren heilig. Das wurde im Radio
vorgelesen. Sind wir dann auch heilig?“
Die beiden Mädchen betreten den Laden. Es ist eine lange Warteschlange, und
es geht nur langsam voran. Als sie endlich dran sind, bestellt Helga: „Ein Glas
Senf bitte.“
Ingrid drängelt sich an ihrer Schwester vorbei. „Zu Hause sagen wir aber
Mostrich dazu.“ Ein leises Gelächter um die beiden herum, und die Verkäuferin
lehnt sich ein wenig nach vorne, um das kleine Mädchen anzusehen. „Wo ich zu
Hause bin, sagt man auch Mostrich.“
„Ja? Sind Sie dann da zu Hause, wo unser Vati auch zu Hause ist?“ fragt die
Kleine erstaunt. „Das hab ich ja noch nie gewusst. Ich frag Vati, wo er zu Hause
ist.“
Auf dem Heimweg hatten die beiden Mädchen erst einmal ein wenig zum
Nachdenken. Dann begann Ingrid: „Weißt du, wo Vati zu Hause ist?“
„Ich glaub schon.“ Kam es langsam von der großen Schwester. „Das ist dort,
wohin Mutti immer die Pakete schickt. Das sind nämlich die Eltern von Mutti und
Vati.“
„Und warum sind die nicht hier?“
„Na, weil wir doch geflüchtet sind.“
„Und warum sind die nicht mit geflüchtet?“
„Weiß nicht. Vielleicht konnten die nicht mehr so weit laufen. Die sind doch
schon alt. Aber nun komm.“
Es gab zum frühen Abendbrot wie jedes Jahr Kartoffelsalat und Würstchen. „Das
ist ja der Mostrich von gestern, nicht der Senf, den wir heute gekauft haben“,
stellt Ingrid fest.
„Ach ja, und Vati, ich wollte dich noch fragen, wo du zu Hause bist. Die
Verkäuferin im Laden sagt nämlich auch Mostrich, so wie du.“
Dann wird der Tisch abgeräumt. Die Mutter bindet sich noch einmal die Schürze
vor. „Ihr könnt mir beide helfen, dann sind wir schneller fertig, „Und danach
ziehen wir uns alle fein an für das Christkind.“
Die beiden Mädchen sind schon eine Weile fein angezogen, haben sich auch ihre
gehäkeltes Täschchen für das Taschentuch umgehängt. Sie warten. Als das
Glöckchen läutet, geht endlich die Tür auf zum Weihnachtszimmer. „Eben war das
Christkind da.“