„Zur Menschenrechtsarbeit gehört ein langer Atem“ – 40 Jahre Amnesty International Neustadt
Neustadt. Seit mehr als 50 Jahren setzt sich Amnesty
International weltweit für Menschenrechte ein. Im Jahr 1961 rief der britische
Anwalt Peter Benenson diese Hilfsorganisation ins Leben. Gerd Ruge und Carola
Stern zählten im selben Jahr zu den Gründungsmitgliedern in Deutschland.
Mittlerweile gibt es sieben Millionen Mitglieder und Unterstützer in mehr als
150 Staaten. Im Jahr 1976 wurde in Neustadt die weltweit 1.237. Gruppe
gegründet. Anlässlich des 40-jährigen Bestehens sprach der reporter mit den
Sprechern der Gruppe Heinke und Wolfgang Hafemann.
der reporter: Wie ist die Gruppe entstanden? Von wem ging
die Initiative aus?
Heinke Hafemann: Über die Gründung selbst ist leider wenig
bekannt. Wir wissen, dass der 29. Juni 1976 der Gründungstag war und Pastor
Werner Krabbes zu den Gründungsmitgliedern gehörte. Er war mein
Konfirmationspastor und sagte 1978 zu uns: „Ihr beiden macht jetzt mit!“ Seitdem
sind wir dabei. Die meisten von uns sind seit über 30 Jahren Mitglied. Das ist
übrigens ein wesentliches Kennzeichen von Amnesty-Arbeit: Viele bleiben ganz
lange dabei, denn leider gehört zur Menschenrechtsarbeit ein langer Atem. Heute
sind wir eine kleine Gruppe mit sieben Mitgliedern.
der reporter: Mit welchen Fällen haben Sie sich damals
beschäftigt und wie sieht die Arbeit heute aus?
Wolfgang Hafemann: Zunächst war Amnesty eine reine
Gefangenen-Hilfsorganisation. Inzwischen arbeiten wir breit gefächert.
Heinke Hafemann: Ja, früher haben wir uns ausschließlich in
Einzelfallarbeit direkt für Gefangene eingesetzt. Oft waren es Fälle in
Südamerika. Einer in der Gruppe hatte direkten Kontakt zum Gefangenen und die
anderen haben Briefe an Regierungschefs, Botschafter oder Hilfsorganisationen
geschrieben. Heute werden immer noch Briefe geschrieben, aber nicht nur.
Mittlerweile ist Amnesty eine Menschenrechtsorganisation, die Kampagnen gegen
Folter, Todesstrafe, Menschenrechtsverletzungen und Armut ins Leben ruft und für
Flüchtlingsschutz und die Achtung der wirtschaftlichen und sozialen Rechte
arbeitet. Amnesty betreibt viel Lobbyarbeit, um ihre Menschenrechtsanliegen
bekannt zu machen. Wir betreiben Infostände und gehen zum Beispiel am Tag der
Menschenrechte am 10. Dezember auf den Marktplatz und sammeln
Unterschriften.
der reporter: Wie viele Briefe haben Sie in den 40 Jahren
geschrieben, wie viele Unterschriften wurden gesammelt?
Heinke Hafemann: Das kann man schwer sagen. Wir schreiben
jeden Monat mehrere Briefe. Es gibt die Eilaktionen, bei denen Mitglieder und
Unterstützer in kurzer Zeit mobilisiert werden, um an die Verantwortlichen zu
appellieren. Allein davon bearbeitet jeder in unserer Gruppe eine pro Monat.
Dann die ganzen Mails, die die anderen Mitglieder verschicken – das kann ich
schon gar nicht sagen, denn wir beide halten mehr davon, Briefe zu schreiben.
Das ist unbequemer, denn Briefe kann man nicht einfach wegklicken.
der reporter: War oder ist es denn immer möglich, überhaupt
in Kontakt zu den Gefangenen zu treten?
Heinke Hafemann: In vielen Fällen konnte nie ein Kontakt
hergestellt werden, weder zu dem Gefangenen noch zu seiner Familie. Trotzdem
haben die Gefangenen, wenn sie wieder frei kamen, berichtet, dass es geholfen
habe, wenn viele Briefe kamen. Dann wurden sie weniger misshandelt und weniger
isoliert. Diese Briefe hatten also durchaus Erfolg. Dann kam – vor allem in
Südamerika – das sogenannte Verschwindenlassen auf. Menschen wurden verhaftet,
kamen nach einem Monat wieder raus und verschwanden wieder. Häufig für immer.
Daraufhin hat Amnesty die Arbeit erweitert und größere Kampagnen gestartet.
Generell gilt: Je öffentlicher man eine Menschenrechtsverletzung macht, desto
größer ist die Chance, dass die Regierung sie mildert.
der reporter: Wo liegen die Schwerpunkte und Erfolge so
einer kleinen Gruppe wie in Neustadt?
Heinke Hafemann: Wir bekommen zwei Mal im Jahr einen
Aktionskalender und beschließen dann, an welcher Aktion oder Kampagne wir als
Schwerpunkt arbeiten wollen. Wir haben uns zum Beispiel lange mit den Themen
Folter und Todesstrafe beschäftigt. Im Moment arbeiten wir an dem Nein zum
EU-Türkei-Deal. Und Erfolge haben wir durchaus auch! Wenn ein Gefangener
freigelassen wird, ist das immer ein großer Erfolg. Aber auch, wenn wir bei
Menschen das Interesse an unserer Arbeit wecken können. Viele Vereine oder
Verbände laden uns zu Vorträgen ein und informieren sich zu Themen wie
Menschenrechtsarbeit oder Asyl. Das Interesse ist vielfach dank der
Lobbyarbeit.
der reporter: Haben Sie, als Sie 1978 Amnesty beitraten,
gedacht, dass es die Gruppe 40 Jahren später noch geben muss?
Wolfgang Hafemann: Wir haben vor 40 Jahren nicht geglaubt,
dass Amnesty irgendwann nicht mehr nötig sein wird, aber wir hatten auch keine
Vorstellung davon, welche Dimensionen das annimmt und wie viele
Menschenrechtsverletzungen begangen werden.
der reporter: Wie kommt es, dass Menschenrechtsverletzungen
so zugenommen haben?
Heinke Hafemann: Allein schon deswegen, weil so viele
Menschen auf der Flucht sind und auch auf der Flucht wieder
Menschenrechtsverletzungen passieren. Es gibt unglaublich viele Konflikte. Und
in vielen Ländern begehen beide Seiten Menschenrechtsverletzungen. Wir haben das
zum Beispiel in Syrien angeprangert, dass alle Parteien dort
Menschenrechtsverletzungen begehen. Es ist leider nicht so, dass man auf der
einen Seite den Bösen ausmachen kann und auf der anderen Seite den Guten.
der reporter: Was kann man dagegen tun?
Heinke Hafemann: Es wird sicher eine ganze Zeit lang wichtig
sein, die Menschenrechtsverletzungen in den Konfliktgebieten weiter anzuprangern
und zu versuchen, die Fluchtursachen zu bekämpfen. Es reicht nicht, ein bisschen
Geld in die Gebiete zu geben. Man muss ernsthaft daran arbeiten. Und dann ist
die Frage, ob es eine Bekämpfung von Fluchtursachen ist, wenn Deutschland so
viele Waffen exportiert. Unserer Meinung nach trägt das sicher nicht dazu bei,
dass es friedlicher wird auf dieser Welt. Das Merkwürdige ist ja auch, dass
manche Länder Protokolle unterzeichnet haben und Mitglieder der UN sind, aber
sich nicht an die Vereinbarungen halten. Amnesty wird sicherlich noch lange
damit beschäftigt sein, darauf zu achten dass die Menschenrechtsverletzungen
weniger werden und dass Vereinbarungen eingehalten werden. Vieles ist zwar eine
innerstaatliche Angelegenheit, aber Menschenrechtsverletzungen sind nie eine
innerstaatliche Angelegenheit.
der reporter: Das heißt, die Ursachen im Land selbst
bekämpfen. Gibt es dafür so etwas wie Präventionsarbeit bei Amnesty?
Heinke Hafemann: Amnesty macht Menschenrechtsarbeit an der
Basis. Jeder kann mitarbeiten und im Rahmen seiner Möglichkeiten dabei helfen,
Menschenrechtsverletzungen öffentlich zu machen. Prävention betreiben wir
insofern nicht, als dass wir als nichtstaatliche Organisationen kaum direkt auf
Regierungen Einfluss nehmen können. Wir bekommen Spenden von unseren Mitgliedern
und Förderern, aber wir nehmen keine Spenden von Ländern oder Parteien an, um
unabhängig zu sein.
der reporter: Hat sich das Interesse an Amnesty durch die
Flüchtlingssituation verändert?
Heinke Hafemann: Nicht direkt an der Amnestyarbeit, aber das
Interesse an der Arbeit mit Flüchtlingen hat sich enorm verstärkt. Ganz viele
Neustädter haben uns angesprochen, weil sie helfen wollen. Und die haben wir
dann vermittelt. Sie begleiten die Flüchtlinge im Alltag und versuchen, den
Flüchtlingen das Gefühl zu geben, dass sie hier willkommen sind. Und das ist
sehr, sehr gut! (he)
Empfang zum Jubiläum
Anlässlich des 40-jährigen Bestehens lädt die Amnesty International Gruppe
Neustadt am Freitag, dem 16. September um 17 Uhr ein zu einem Empfang mit
anschließendem Vortrag im Gebäude der Freien Evangelischen Kirche Neustadt, Am
Binnenwasser 5. Referent ist Wolfgang Grenz, ehemaliger Generalsekretär von
Amnesty Deutschland und erster Referent für Flüchtlings- und Asylfragen bei
Amnesty überhaupt. Des Weiteren zeigt das Koki am Donnerstag, dem 22. September
um 20 Uhr den Film „Seefeuer“, der bei der Berlinale 2016 den Amnesty-Filmpreis
erhielt sowie als bester Film den Goldenen Bären. (he)

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