Alexander Baltz

Rede zum Volkstrauertag

Der Träger des Ehrenrings der Stadt Neustadt, Uwe Muchow, hielt eine bewegende Gedenkrede am Ehrenmal am Heisterbusch zum Volkstrauertag.

Der Träger des Ehrenrings der Stadt Neustadt, Uwe Muchow, hielt eine bewegende Gedenkrede am Ehrenmal am Heisterbusch zum Volkstrauertag.

Neustadt. „Heute Morgen sind Sie aufgestanden. Wahrscheinlich sind Sie dann in Ihr warmes Badezimmer gegangen. Sie haben sich gewaschen, Ihre Zähne geputzt. Was man eben morgens im Badezimmer so macht. Dann haben die meisten von Ihnen gefrühstückt. Vielleicht haben Sie einen schönen, heißen Kaffee oder Tee getrunken. Es war wahrscheinlich, bis auf die Vorbereitungen zu dieser Stunde, ein ziemlich normaler Morgen heute Morgen. Dann haben Sie sich Ihren warmen Mantel übergezogen und sind rausgegangen. Was haben Sie in dem Moment gedacht, als Sie das warme Haus verließen? Haben Sie gedacht: Ganz schön kalt heute Morgen? Ja. Es ist kalt heute Morgen. Es ist sogar saukalt. Aber: Vor 70 Jahren in Stalingrad war es mindestens 20 Grad kälter! Wer von Ihnen hat schon mal so niedrige Temperaturen erlebt? Das war nicht saukalt. Wie heute hier bei uns. Das war unfassbar bitterkalt. Und es gab keinen heißen Kaffee und keinen trockenen warmen Mantel beim Rausgehen für die jungen Männer, die dort in um ihr Leben kämpften. Was würden die uns antworten, wenn wir sie fragen könnten: Wie heldenhaft habt ihr euch gefühlt? Das steht hier nämlich in Stein gemeißelt: Für unsere Helden. Heute sind wir wieder einmal zusammengekommen, um der Opfer von Krieg und Gewalt zu gedenken. Und wir stehen dabei am Ehrenmal für die in drei Kriegen getöteten Männer aus Neustadt in Holstein.
 
Ich selbst habe die Kälte des Krieges nicht miterlebt und meine Jugend weit abgeschieden von den kriegszerstörten Städten am Ostseestrand verbracht. Ich wurde erst geboren, als die Neustädter gerade die Trachtenwoche, das heutige europäische folklore festival etabliert hatten, um die Integration der Kriegsflüchtlinge aus den Ostgebieten voranzutreiben und um sich mit den ehemaligen Kriegsgegnern zu versöhnen. Ich bin ein Teil der Generation, die den Sommer Europas genießen darf. Das ist ein großes Glück. Doch das macht mich nicht frei von der Pflicht, den nachfolgenden Generationen immer und immer wieder zu erzählen, wie kalt und grausam Menschen sein können. Und dass man die Menschheit vor kalten Menschen schützen muss. Immer wichtiger wird es zu betonen, dass der Krieg keine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln ist. Der Tod ist schließlich auch nicht die Fortsetzung des Lebens mit anderen Mitteln, sondern das Gegenteil und nicht nur Anderes. Vergewaltigung ist nicht die Fortsetzung der Sexualität mit anderen Mitteln, sondern jemand macht es mit Gewalt. Und ein guter, bereits verstorbener Freund von mir, der Soldat im Zweiten Weltkrieg war, drückte es so aus: ‚Niemand meiner Kameraden, die neben mir im Schützengraben starben, wollte als Held so früh sein Leben beenden.‘
 
Hier an dieser Stelle müssen wir immer wieder betonen, dass wir Menschen gedenken, die nicht als Helden gestorben sind. Ihr Leben wurde frühzeitig weggeworfen, weil es rücksichtlose Machthaber gab, deren Ego größer war als die Vernunft. Bismarck hat die Dänen, Österreicher und später die Franzosen angegriffen, weil er einen großen Deutschen Nationalstaat etablieren wollte. Der Erste Weltkrieg ist entstanden, weil die Politiker aller beteiligten Großmächte auf ganzer Linie versagt hatten. Und der Zweite Weltkrieg ist die Folge von Dummheit, Lüge, Hetze und Größenwahn. Das Volk selbst wurde immer instrumentalisiert, um die Interessen der Machthaber durchzusetzen. Berthold Brecht fragte: ‚Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen nur Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? Der junge Alexander eroberte Indien. Er allein? Philipp von Spanien weinte, als seine Flotte untergegangen war. Weinte sonst niemand? Alle zehn Jahre ein großer Mann. Wer bezahlte die Spesen? So viele Berichte. So viele Fragen.‘
 
Die Soldaten allein waren nicht die Leidtragenden. Darum gedenken wir heute aller Opfer der Kriege und der Gewalt, die von Deutschland ausging. Man erzählte mir von einem Neustädter Nationalsozialisten, der darüber begeistert war, dass endlich der Krieg begonnen hatte. Er war stolz, dass sein Sohn nun für Deutschland in den Krieg ziehen konnte. Doch leider war es genau dieser erst 19 Jahre junge Mensch, dessen Tod man in Neustadt nur zehn Tage nach Kriegsbeginn betrauerte. Seine Mutter hat ihn nie wiedergesehen, er wurde in Polen begraben. Was muss die Mutter, diese arme Frau, ertragen haben? Mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges und über 60 Millionen Toten ist die Welt nicht klüger geworden. Darum wird das Wachhalten der Erinnerung an alle Gräuel immer wichtiger, auch weil die Zeitzeugen nicht mehr selbst berichten können. Alle Generationen werden auch weiterhin immer von neuem lernen müssen, dass Frieden und Gewaltlosigkeit nicht selbstverständlich sind. Dieser Blick zurück hilft. Aber richten wir unsere Gedanken in die Zukunft. Den zukünftigen jungen Männern und Müttern sind wir es schuldig aufzuklären, zu welcher Brutalität eines Krieges und Gewalt Menschen fähig sind. Warnen sollten wir vor Menschen, die Mauern um die USA und Europa bauen wollen und die gleichzeitig behaupten, sie würden ihr Volk, also uns schützen. Die Argumentation ist eben so leer, als wenn man nur die Uhr anhalten müsste, um die Zeit zum Stehen zu bringen. Diese politischen Verführer sind die geistigen Wegbereiter viel schlimmerer Entwicklungen. Sie machen die Welt wieder kälter. Welches Volk weiß das besser als unseres? Meine Gedanken treiben mich weiter: Was ist das eigentlich für ein Krieg in der Ukraine? Wer kämpft warum und gegen wen? Sind es Ethnien, die aufeinander prallen, die sich außer durch tödliches Gemetzel nicht besser zu helfen wissen? Oder sind es wieder Großmachtansprüche von Regierungen, gar Einzelpersonen? Wo ist das Wissen der Geschichte bei den Verantwortlichen? Die Geschichte unseres Landes Schleswig-Holstein führt uns vor Augen, dass es nicht lohnt, Kriege allein wegen der Gebietsansprüche zu führen. Über 500 Jahre wurde in unserem Land um die Zugehörigkeit der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Stormarn gestritten. Erst seit Mitte des letzten Jahrhunderts wird der Vertrag von Rieben von 1460 wieder nüchterner als eine wichtige historische Übereinkunft beurteilt. Nicht die Unteilbarkeit Schleswigs und Holsteins wird als wichtigster Aspekt angesehen, sondern die Schaffung eines Landfriedens. Bedenken Sie: erst als die Dänen und Deutschen eine „grüne Grenze“ einrichteten kam der dauerhafte Frieden in unser Land. Zu dieser Einsicht benötigten wir fast 600 Jahre. Wir müssen daher noch lauter fragen, warum eine solche grüne Grenze im Donbass nicht möglich ist. Den aktuellen Krieg in Syrien lasse ich heute bewusst aus. Dort herrscht Anarchie im besten Sinn. Unbeschreiblich, unverständlich, unverantwortlich, unglaublich dumm. Ich komme zurück auf unsere Schuld und Pflicht gegenüber unseren Nachfolgegenerationen: sie über die Brutalität und Kälte eines Krieges aufzuklären. Lessing gab Hoffnung und schrieb dazu in seinem Schriftstück ‚Ernst und Falk‘ im übertragenen Sinn: Die Menschheit hat schon immer über Frieden nachgedacht. Lassen Sie uns nachdenken über Egoismen der kalten Politiker, die den unkritisch nachlaufenden Massen einreden, sie würden die deutsche Identität bewahren wollen. Nein, sie bewahren gar nichts, sie nehmen uns viel mehr: sie nehmen uns die Freiheit, den Frieden, die Menschlichkeit. Sie nehmen der ständig wachsenden Weltbevölkerung die Möglichkeit, friedlich nebeneinander zu leben. Weil sie trennen und zerstören, um ihre selbstherrlichen Vorstellungen besser ausleben zu können. Wir sollten, unbeirrt vom Lärm der Welt, weiter zuversichtlich den Weg einer friedlichen, warmen Koexistenz der Völker gehen, so wie wir es seit über 70 Jahren hier in Neustadt gewohnt sind. Mit Toleranz, in Gleichheit und Brüderlichkeit untereinander. Das braucht die Menschheit morgen noch mehr als heute, weil es immer mehr Menschen auf der Erde geben wird.
 
Überlegen wir noch einmal gemeinsam: Was würden wir all die jungen Männer fragen, die durch Kriege ihr Leben verloren haben? Was würden wir sie fragen, die jungen Männer, die nichts waren als Figuren auf dem Schachbrett von machthungrigen Politikern? Was würden wir sie fragen, die jungen Männer, die um ihr Leben betrogen wurden? Und was würden sie uns wohl heute zu sagen haben? Es ist nur eine Vermutung. Aber ich würde darauf wetten, dass sie uns antworten würden: Seid wachsam auf euch selbst! Macht nicht die gleichen Fehler wie wir.
 
Ich wünsche Ihnen einen besinnlichen Sonntag in einem hoffentlich warmen Haus.“


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