

Neustadt. „Heute Morgen sind Sie aufgestanden.
Wahrscheinlich sind Sie dann in Ihr warmes Badezimmer gegangen. Sie haben sich
gewaschen, Ihre Zähne geputzt. Was man eben morgens im Badezimmer so macht. Dann
haben die meisten von Ihnen gefrühstückt. Vielleicht haben Sie einen schönen,
heißen Kaffee oder Tee getrunken. Es war wahrscheinlich, bis auf die
Vorbereitungen zu dieser Stunde, ein ziemlich normaler Morgen heute Morgen. Dann
haben Sie sich Ihren warmen Mantel übergezogen und sind rausgegangen. Was haben
Sie in dem Moment gedacht, als Sie das warme Haus verließen? Haben Sie gedacht:
Ganz schön kalt heute Morgen? Ja. Es ist kalt heute Morgen. Es ist sogar
saukalt. Aber: Vor 70 Jahren in Stalingrad war es mindestens 20 Grad kälter! Wer
von Ihnen hat schon mal so niedrige Temperaturen erlebt? Das war nicht saukalt.
Wie heute hier bei uns. Das war unfassbar bitterkalt. Und es gab keinen heißen
Kaffee und keinen trockenen warmen Mantel beim Rausgehen für die jungen Männer,
die dort in um ihr Leben kämpften. Was würden die uns antworten, wenn wir sie
fragen könnten: Wie heldenhaft habt ihr euch gefühlt? Das steht hier nämlich in
Stein gemeißelt: Für unsere Helden. Heute sind wir wieder einmal
zusammengekommen, um der Opfer von Krieg und Gewalt zu gedenken. Und wir stehen
dabei am Ehrenmal für die in drei Kriegen getöteten Männer aus Neustadt in
Holstein.
Ich selbst habe die Kälte des Krieges nicht miterlebt und meine Jugend weit
abgeschieden von den kriegszerstörten Städten am Ostseestrand verbracht. Ich
wurde erst geboren, als die Neustädter gerade die Trachtenwoche, das heutige
europäische folklore festival etabliert hatten, um die Integration der
Kriegsflüchtlinge aus den Ostgebieten voranzutreiben und um sich mit den
ehemaligen Kriegsgegnern zu versöhnen. Ich bin ein Teil der Generation, die den
Sommer Europas genießen darf. Das ist ein großes Glück. Doch das macht mich
nicht frei von der Pflicht, den nachfolgenden Generationen immer und immer
wieder zu erzählen, wie kalt und grausam Menschen sein können. Und dass man die
Menschheit vor kalten Menschen schützen muss. Immer wichtiger wird es zu
betonen, dass der Krieg keine bloße Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln
ist. Der Tod ist schließlich auch nicht die Fortsetzung des Lebens mit anderen
Mitteln, sondern das Gegenteil und nicht nur Anderes. Vergewaltigung ist nicht
die Fortsetzung der Sexualität mit anderen Mitteln, sondern jemand macht es mit
Gewalt. Und ein guter, bereits verstorbener Freund von mir, der Soldat im
Zweiten Weltkrieg war, drückte es so aus: ‚Niemand meiner Kameraden, die neben
mir im Schützengraben starben, wollte als Held so früh sein Leben beenden.‘
Hier an dieser Stelle müssen wir immer wieder betonen, dass wir Menschen
gedenken, die nicht als Helden gestorben sind. Ihr Leben wurde frühzeitig
weggeworfen, weil es rücksichtlose Machthaber gab, deren Ego größer war als die
Vernunft. Bismarck hat die Dänen, Österreicher und später die Franzosen
angegriffen, weil er einen großen Deutschen Nationalstaat etablieren wollte. Der
Erste Weltkrieg ist entstanden, weil die Politiker aller beteiligten Großmächte
auf ganzer Linie versagt hatten. Und der Zweite Weltkrieg ist die Folge von
Dummheit, Lüge, Hetze und Größenwahn. Das Volk selbst wurde immer
instrumentalisiert, um die Interessen der Machthaber durchzusetzen. Berthold
Brecht fragte: ‚Wer baute das siebentorige Theben? In den Büchern stehen nur
Namen von Königen. Haben die Könige die Felsbrocken herbeigeschleppt? Der junge
Alexander eroberte Indien. Er allein? Philipp von Spanien weinte, als seine
Flotte untergegangen war. Weinte sonst niemand? Alle zehn Jahre ein großer Mann.
Wer bezahlte die Spesen? So viele Berichte. So viele Fragen.‘
Die Soldaten allein waren nicht die Leidtragenden. Darum gedenken wir heute
aller Opfer der Kriege und der Gewalt, die von Deutschland ausging. Man erzählte
mir von einem Neustädter Nationalsozialisten, der darüber begeistert war, dass
endlich der Krieg begonnen hatte. Er war stolz, dass sein Sohn nun für
Deutschland in den Krieg ziehen konnte. Doch leider war es genau dieser erst 19
Jahre junge Mensch, dessen Tod man in Neustadt nur zehn Tage nach Kriegsbeginn
betrauerte. Seine Mutter hat ihn nie wiedergesehen, er wurde in Polen begraben.
Was muss die Mutter, diese arme Frau, ertragen haben? Mit dem Ende des Zweiten
Weltkrieges und über 60 Millionen Toten ist die Welt nicht klüger geworden.
Darum wird das Wachhalten der Erinnerung an alle Gräuel immer wichtiger, auch
weil die Zeitzeugen nicht mehr selbst berichten können. Alle Generationen werden
auch weiterhin immer von neuem lernen müssen, dass Frieden und Gewaltlosigkeit
nicht selbstverständlich sind. Dieser Blick zurück hilft. Aber richten wir
unsere Gedanken in die Zukunft. Den zukünftigen jungen Männern und Müttern sind
wir es schuldig aufzuklären, zu welcher Brutalität eines Krieges und Gewalt
Menschen fähig sind. Warnen sollten wir vor Menschen, die Mauern um die USA und
Europa bauen wollen und die gleichzeitig behaupten, sie würden ihr Volk, also
uns schützen. Die Argumentation ist eben so leer, als wenn man nur die Uhr
anhalten müsste, um die Zeit zum Stehen zu bringen. Diese politischen Verführer
sind die geistigen Wegbereiter viel schlimmerer Entwicklungen. Sie machen die
Welt wieder kälter. Welches Volk weiß das besser als unseres? Meine Gedanken
treiben mich weiter: Was ist das eigentlich für ein Krieg in der Ukraine? Wer
kämpft warum und gegen wen? Sind es Ethnien, die aufeinander prallen, die sich
außer durch tödliches Gemetzel nicht besser zu helfen wissen? Oder sind es
wieder Großmachtansprüche von Regierungen, gar Einzelpersonen? Wo ist das Wissen
der Geschichte bei den Verantwortlichen? Die Geschichte unseres Landes
Schleswig-Holstein führt uns vor Augen, dass es nicht lohnt, Kriege allein wegen
der Gebietsansprüche zu führen. Über 500 Jahre wurde in unserem Land um die
Zugehörigkeit der Herzogtümer Schleswig, Holstein und Stormarn gestritten. Erst
seit Mitte des letzten Jahrhunderts wird der Vertrag von Rieben von 1460 wieder
nüchterner als eine wichtige historische Übereinkunft beurteilt. Nicht die
Unteilbarkeit Schleswigs und Holsteins wird als wichtigster Aspekt angesehen,
sondern die Schaffung eines Landfriedens. Bedenken Sie: erst als die Dänen und
Deutschen eine „grüne Grenze“ einrichteten kam der dauerhafte Frieden in unser
Land. Zu dieser Einsicht benötigten wir fast 600 Jahre. Wir müssen daher noch
lauter fragen, warum eine solche grüne Grenze im Donbass nicht möglich ist. Den
aktuellen Krieg in Syrien lasse ich heute bewusst aus. Dort herrscht Anarchie im
besten Sinn. Unbeschreiblich, unverständlich, unverantwortlich, unglaublich
dumm. Ich komme zurück auf unsere Schuld und Pflicht gegenüber unseren
Nachfolgegenerationen: sie über die Brutalität und Kälte eines Krieges
aufzuklären. Lessing gab Hoffnung und schrieb dazu in seinem Schriftstück ‚Ernst
und Falk‘ im übertragenen Sinn: Die Menschheit hat schon immer über Frieden
nachgedacht. Lassen Sie uns nachdenken über Egoismen der kalten Politiker, die
den unkritisch nachlaufenden Massen einreden, sie würden die deutsche Identität
bewahren wollen. Nein, sie bewahren gar nichts, sie nehmen uns viel mehr: sie
nehmen uns die Freiheit, den Frieden, die Menschlichkeit. Sie nehmen der ständig
wachsenden Weltbevölkerung die Möglichkeit, friedlich nebeneinander zu leben.
Weil sie trennen und zerstören, um ihre selbstherrlichen Vorstellungen besser
ausleben zu können. Wir sollten, unbeirrt vom Lärm der Welt, weiter
zuversichtlich den Weg einer friedlichen, warmen Koexistenz der Völker gehen, so
wie wir es seit über 70 Jahren hier in Neustadt gewohnt sind. Mit Toleranz, in
Gleichheit und Brüderlichkeit untereinander. Das braucht die Menschheit morgen
noch mehr als heute, weil es immer mehr Menschen auf der Erde geben wird.
Überlegen wir noch einmal gemeinsam: Was würden wir all die jungen Männer
fragen, die durch Kriege ihr Leben verloren haben? Was würden wir sie fragen,
die jungen Männer, die nichts waren als Figuren auf dem Schachbrett von
machthungrigen Politikern? Was würden wir sie fragen, die jungen Männer, die um
ihr Leben betrogen wurden? Und was würden sie uns wohl heute zu sagen haben? Es
ist nur eine Vermutung. Aber ich würde darauf wetten, dass sie uns antworten
würden: Seid wachsam auf euch selbst! Macht nicht die gleichen Fehler wie wir.
Ich wünsche Ihnen einen besinnlichen Sonntag in einem hoffentlich warmen
Haus.“